„Und so sprach Adanos zu seinen Brüdern: Nie mehr sollt ihr mein Land betreten. Denn es ist heilig. Und so soll es sein.“
Adanos ist das Gleichgewicht. Adanos steht in der Mitte zwischen seinen beiden zankenden Brüdern und versucht sie zu beruhigen, gebietet mal dem einen und mal dem anderen Einhalt. Immer darauf bedacht, niemanden zu bevorzugen. Er ist zwar nur ein Bruder, doch er ist weiser und einfühlsamer, fast wie ein Vater. Er ist mächtiger und doch so viel schwächer als seine Brüder, weil er weiß, dass alles Konsequenzen hat, dass jedes Spielen mit der Magie oder dieser unsrigen Welt nicht ohne Folgen bleiben kann und wird. Und so bleibt ihm nur, den Einfluss seiner Brüder auf unsere Sphäre so klein wie möglich zu halten und uns die Freiheit zu geben, das zu tun, was wir für richtig halten.
Und da kommen wir ins Spiel: Magier des Kreis des Wassers oder Wassermagier, wie man uns im Volksmund nennt. Wir sind, wie unsere Magierkollegen aus dem Orden Innos‘, Elementarmagier und unsere Elemente sind das Wasser – und damit auch das Eis – und die Erde. Vollkommen passend: Wasser ist immer in Bewegung, Wellen preschen gegen Felsen und rollen über den feinen Sand der Strände um kurz darauf wieder zurückzutreten und zu verschwinden. Wie das Gleichgewicht so ist auch das Wasser immer in Bewegung. Für viele mag es schwach und unausgeglichen daher kommen, doch Wasser ist kräftig. Es zermürbt Stein: Es mag dauern. Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, doch irgendwann ist auch der die dickste Mauer und die mächtigste Festung nicht mehr. Wasser löscht auch Feuer, doch zugleich schenkt es Leben. Ohne Wasser wäre niemand von uns, genauso wenig wie ohne Erde, ohne fruchtbaren Boden. Dann gäbe es keine Natur. Und mit der Zeit, wenn auch der letzte Mensch diese Welt verlassen hat, wird die Natur ihr Land zurückgewinnen, selbst in den größten und mächtigsten Städten. Und wenn das Ende dieser Welt kommt, wird auch das letzte bisschen Erde in den Tiefen der Ozeane versinken und allein die Götter noch übrig sein.
Und so sind unsere Elemente nicht nur Leben spendend, sondern auch nehmend und überwältigend. So wie Adanos und das Gleichgewicht.
Wir Wassermagier folgen Adanos‘ Lehre des Gleichgewichts. Das bedeutet nicht nur, dass wir sie für das Verhältnis zwischen Königreichen oder Orten anwenden, sondern auch im normalen, nicht minder komplizierten Leben. Doch was bedeutet das Gleichgewicht für uns? Wenn man sich ins Haus der Magier in Setarrif stellen würde, so bekäme man sicherlich viele verschiedene Antworten. Wir mögen nicht so eigenbrötlerisch und individualistisch sein wie die Schwarzmagier in ihrem Kastell, doch wir sind auch nicht so gleichgeschaltet und nach Recht und Ordnung drängend wie die Feuermagier in Thorniara. Adanos lehrt uns, dass wir frei sind. Frei unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Frei unsere eigene Meinung zu haben. Das einzige und wichtigste Prinzip, dem wir folgen, ist der Erhalt von Leben.
Und das beinhaltet manchmal auch, dass dafür anderes Leben gehen muss. Ein weiterer Punkt, in dem nicht alle Magier unseres Kreises übereinstimmen.
Aber was ist nun das Gleichgewicht, das wir so suchen?
Eine Antwort ist sicherlich, dass Argaan frei sein sollte vom Einfluss der Diener Innos‘ und ihrer rechtschaffenen Ordnung. Argaan und besonders Setarrif waren bereits lange vor dem Einfluss der Myrtaner eine Hochkultur Adanos‘. Jahrhunderte, Jahrtausende alt. Adanos drängt seine Diener nicht dazu zu beten oder für ihn Tempel zu errichten. Solche, die ihm dienen wollen, dienen ihm durch Taten und durch Glauben alleine. Doch hier in Setarrif steht der letzte große Tempel Adanos‘. Ein Ort der Ruhe und des Friedens und bedroht durch den Eroberungswillen Rhobars. Für viele Setarrifer Magier, besonders die Hofmagier um ihren Obersten Hathon und König Ethorn, bedeutet Gleichgewicht die Rückeroberung Argaans und damit die Wiederherstellung eines einzigen Königreichs auf dieser Insel. Dies nötigenfalls auch durch den Einsatz von Gewalt, wie es im Krieg notwendig ist.
Andere hingegen, vor allem diejenigen Wassermagier, die von den Ruinen Al Shedims kamen, bedeutet Gleichgewicht Frieden. Frieden zwischen den Menschen, freier Zugang zu allen Orten für jeden und eine freie Meinungsäußerung. Das Leben soll geschützt werden und jeder soll das erreichen können, was er oder sie möchte. Diese Ziele sind natürlich letztendlich die Ziele aller Wassermagier, doch gerade in der Al Shedimer Fraktion stärker vertreten und vordergründiger. Ein Frieden zwischen Setarrif und Thorniara wäre die beste Möglichkeit, egal wie dieser aussehen würde, solange der Adanosglaube weiterhin frei in dieser prächtigen Stadt mit ihren goldenen Kuppeln ausgeübt werden darf – ebenso wie auf dem Festland.
Wir, die Magier aus Al Shedim, haben lange unter der Herrschaft Myrtanas gelebt. Wir durften unsere Meinung frei vertreten, predigen und reisen. So könnte es wieder sein, wenn Frieden herrscht. Und wieso sollte es auch nicht? Wassermagier und Feuermagier lebten bereits einst im Kloster auf Khorinis in einer Heiligen Allianz und waren auch danach weiterhin Verbündete. Al Shedim kam sogar Vengard zur Hilfe, als die Orks die Königsstadt belagerten, wenn die Kämpfe der Nomaden und Wassermagier auch nicht an eben diesem Ort stattfanden.
Dieses Gleichgewicht jedoch betrifft nur Setarrif und Argaan. Wir Wassermagier jedoch sehen und denken weiter: Für uns bedeutet Gleichgewicht nicht nur Gleichgewicht auf Argaan, sondern überall. Während zu Zeiten der Orkbesetzung in Myrtana Beliars Macht zu groß war, so ist nun, nach der Rückeroberung Myrtanas unter der Flagge Innos, der Gott des Feuers und der Ordnung zu mächtig. Wir wollen keinen Eroberungsfeldzug der Orks, Assassinen oder Krieger Adanos‘, doch auch keine allumfassende Herrschaft der Ordnung. Denn Ordnung unterbindet freies Denken, herrscht zwar gerecht und doch kompromisslos und unnachgiebig. Genauso wie das Chaos Beliars zwar frei und selbstbestimmt macht, zugleich aber auch ungerecht ist.
Einzig das Gleichgewicht zwischen gerecht und barmherzig kann das Ziel und der Weg sein.
Doch wo führt uns das hin? Was tun wir Wassermagier dafür, dass dieses Gleichgewicht eintritt?
Manche mögen sagen, dass es zu wenig ist, was wir tun. Besonders die Hofmagier Setarrifs stehen für einen aktiveren, aggressiveren Weg, der über kurz oder lang, wobei die Gewichtung hier eher auf kurz liegt, zu Krieg führen wird.
Das mag auf den ersten Blick unserer Lehre widersprechen, schließlich sollen wir das Leben schützen und erhalten. Doch manchmal muss Leben weichen, um anderem Leben Platz zu bieten; um dafür zu sorgen, dass Hochmut und Fanatismus enden. Ungerechtigkeit und Unterdrückung keine Chance haben.
Wir Diener Adanos‘ haben dies am eigenen Leib gespürt: Jharkendar und Al Shedim, weitere ehemalige Tempel Adanos‘, waren lange Zeit Zentren von Hochkulturen, die bereits auf ihrem Zenit waren als die myrtanische Innoskultur noch in ihren Kinderschuhen steckte. Doch ihr Hochmut zerstörte ihre Kultur und ihren Glauben. Sie entfremdeten sich von Adanos‘ Lehren und bezahlten dafür mit ihrem Untergang: Adanos, gerecht und barmherzig, ließ das Wasser über sie kommen und versenkte ihre Tempel. Leben ward genommen, Leben von Dienern Adanos‘. Doch das Ende dieser Kulturen diente einzig und allein dem Erhalt von Leben. Solche, die treu geblieben waren, waren verschont geblieben und während die ehemaligen Tempel und Städte in Schutt und Asche zerfielen, so konnten treue Diener des Lebens dieses wieder aufbauen. Natur kam zurück und die Welt ward wieder ein besserer Ort.
Dieser Teil unserer Geschichte hat uns gelehrt, dass wir nicht ohne Fehler und Fanatismus sind und auch aus unseren eigenen Reihen Gefahr für das Leben herrschen kann. Und während ein aggressiverer Weg die Lösung sein kann für die Konflikte auf Argaan, so ist unser Wirken nicht nur an einen Ort oder an eine Person gebunden. Wir treten ein für alle Menschen, ob nun in Setarrif oder anderswo und werden alles dafür tun, ihr Leben zu schützen – egal gegen wen.
Und zugleich werden wir auch weiterhin unseren Studien und unserem Wirken im Haus der Magier nachgehen. Wir werden diskutieren und einen Kompromiss finden, der allen Parteien gerecht wird und weiterhin das Gleichgewicht lehren.
Denn Gleichgewicht kann niemals vollkommen herrschen. Es wird immer eine Seite geben, die stärker ist. Kein Extrem ruht jemals und so werden auch wir niemals ruhen.
„Adanos aber sah, dass so nichts sein konnte. Kein Licht und keine Dunkelheit.
Und so stellte er sich zwischen seine Brüder, um ihren Streit zu schlichten. Und es gelang ihm nicht.
Aber dort, wo Adanos stand, ward ein Ort, an dem Innos und Beliar keine Macht hatten.
Und an diesem Ort waren Ordnung und Chaos zugleich.“
-- Tinquilius
Auf Seite 3 wird es haarig!