Glücklicherweise blieb uns dieses Schicksal jedoch erspart. Wir fanden Land, noch bevor der dritte Tag zu Ende ging. Es war eine große Insel, von schroffem Fels, der in einem großen Berg gipfelte, der die ganze Insel in seinen Schatten zwang. Es gab einige kleinere, und eine große Stadt. Ich wurde an Land geschickt, um um Hilfe zu beten: Holz, Nahrung, Handwerker.
Bald hatte ich das Haus des Mannes gefunden, der uns diese Dinge geben konnte. Es war nicht schwer zu verfehlen, war es doch das größte Haus dieser Stadt. Was sag ich, Haus. Ein Palast, weiß verputzt, mit Säulen und Stuckarbeiten, Löwenstatuen und einem gepflegten Garten. Ich trat ein und wurde von einem hochgewachsenen Mann begrüßt. Er hatte recht dunkle Haut und ein Gesicht, das wie gemeißelt schien. "Sie wünschen?" fragte er mich, in einem seltsam fremden Akzent, der es schwer machte, ihn zu verstehen. "Ich wünsche, euren Herren zu sprechen" antwortete ich ihm, dem Mann geradewegs in die Augen blickend. Er verzog keine Mine, als er mir sagte "Der Herr Shamuel von Sinikalpos ist nicht zu sprechen. Sein Schuh ist nicht auffindbar."
"Sein Schuh ist nicht auffindbar?" fragte ich skeptisch. Ich war mir sicher, der Mann wollte mich zum Narren halten, doch sein Gesicht blieb ernst. Nicht einmal ein Lächeln, ein Zucken mit den Mundwinkeln. "Jawohl." antwortete er und ich überlegte. War der Mann dumm? Ein Narr? Je länger ich ihn anschau, desto sicherer wurde ich mir dessen. "Euer Herr wird doch mehr als ein paar Schuhe haben." erklärte ich ihm und versuchte mich an ihm vorbeizudrängeln. Sicherlich war er nur ein armer Irrer, der auch einmal etwas zu sagen haben wollte. So dachte ich jedenfalls, doch ein starker Arm hielt mich zurück. "Ich sagte, der Herr Shamuel ist nicht zu sprechen." betete er seine Ansprache herunter. "Jaja, wegen den Schuhen." unterbrach ich ihn genervt. "Hören Sie, unser Schiff ist in einen Sturm geraten und wir brauchen dringend Hilfe. Also lassen Sie mich jetzt bitte zu ihrem Herren?"
"Das geht nicht!" antwortete er mir und ich befürchtete schon, die ewig andauernde Lamentation über den Schuh noch einmal ertragen zu müssen. Stattdessen runzelte der Mann die Stirn, besah mich wie ein fremdartiges Tier und legte schließlich eine sehnige Hand um meine Schulter. "Aber Ihr seid fremd hier, nicht wahr? Ich schlage also ein Geschäft im Namen meines Herren vor. Ihr helft uns, dann helfen wir im Gegenzug euch. Lasst uns einen ruhigen Ort aufsuchen, wo wir reden können." Ich bekam es schon mit der Angst zu tun. Ein ruhiger Ort also... reden, wer weiß, welche seltsamen Praktiken die Leute dieses Landes hier darunter verstehen. Mir schauderte.
Dennoch folgte ich ihm - fürs Wohl der Crew! Wir gingen in ein helles Zimmer, das so gut wie unmöbliert war. Der Mann ging zum Fenster und schloss die hölzernen Fensterladen, sodass nur noch diffuses Licht den Raum erhellte.
"Die Sache ist uns ausserordentlich peinlich." begann der Mann zu sagen und ich konnte nur zustimmend nicken. Bisher war es wirklich mehr als nur peinlich, was er da redete. "Es gibt eine Sitte hier, in Sinikalpos. Wann auch immer ein Bittsteller vor unseren Herren treten will, muss er diese Schuhe tragen. So wird gewährleistet, dass es kein Tumult gibt und immer nur ein Mann vor unseren König tritt. So ist es seit jahrhunderten Brauch und heiliges Gesetz."
Langsam dämmerte mir, worauf er hinauswollte. Kein Schuh, keine Hilfe. "Er wurde gestohlen?" fragte ich und der Mann nickte, erstmals zeigte sein Gesicht eine Regung. Er war beschämt deswegen, in seiner Ehre gekränkt. "Und wer hätte das tun können?" bohrte ich weiter nach. Langsam ging mir der Kerl auf die Nerven. "Das ist es ja - jeder! Die Schuhe stehen normal im Palast, vor dem Saal, in dem der Herr normal sitzt. Jeder hätte kommen können und sie einfach nehmen können - wenn ihn niemand erwischt hätte. Normalerweise hätte man an drei Wachposten vorbeilaufen müssen, die schwören, nichts gesehen oder gehört zu haben." Verzweifelt sank der Mann zusammen, in den einzigen Stuhl, der in diesem Raum stand. Er war ein Häufchen Elend, beschämt, seine Pflichten nicht erfüllt zu haben, das war deutlich zu erkennen. "Wer hätte Grund gehabt, die Schuhe zu stehlen?" fragte ich die weiteren, offensichtlichen Fragen. Wieder einmal legte mein Gegenüber die Stirn in Falten. "Mein Herr ist außerordentlich beliebt." antwortete er zaghaft, und ich fragte mich jetzt schon, worauf ich mich da eingelassen hatte...