04 Die Soziologie der Echsenmenschen


Seit der Zerstörung Setarrifs ist uns die Existenz der fremdartigen Echsenrasse auf der sonst so paradiesischen südlichen Insel Argaan mehr als bewusst. Diese geschuppten Kreaturen stellen unter der Herrschaft ihres Drachenanführers eine Bedrohung dar, der die Insulaner bisher nichts entgegen zu setzen haben. Nach wie vor sind die Gebiete, die von den Echsen überrannt sind, so gut wie unpassierbar. Nur die mutigsten und erfahrensten Streiter wagen sich ins Unbekannte vor. Nicht alle kehren zurück, um Bericht zu erstatten. So ist das Wissen über diese Feinde nach wie vor mehr als begrenzt. Um dem geneigten Leser einen Überblick zu verschaffen, wird hier versucht jede bekannte Information kurz zusammenzufassen.

Es wird vermutet, dass das Erscheinen dieser reptiloiden Rasse mittelbar mit dem Kometeneinschlag ins Weißaugengebirge vor einigen Jahren einhergeht. Die Fachwelt ist sich aufgrund diverser archaischer Prophezeiungen und Weissagungen, modernerer Sternenkonstellationsauswertungen (vergleiche hierzu A. B. Erglaube und N. O. N. Sinns, sowie die Tabellen aus der Zusammenschrift von Buck, Humbertus „Hum“) sowie inzwischen nicht mehr zu widerlegenden Augenzeugenberichten einig, dass es sich um ein vom Himmel gefallenes Drachenei handelte, welches damals im Argaanmassiv niederstürzt. Dieses zum früheren Zeitpunkt wenig beachtete Ereignis zieht bis heute größte Konsequenzen nach sich.
Der Schrecken beginnt mit vereinzelten Übergriffen auf arglose Wanderer, von denen bis heute nur bekannt ist, dass die betroffenen Personen vermisst sind. Größere Jagd- oder Spähtrupps wissen von eigenartigen Kampfspuren oder unheimlichen Schatten im Geäst des Dickichts zu berichten. Doch die Geschichten werden häufig als Lagerfeuergarn abgetan. Mit der Zeit nehmen die Übergriffe jedoch zu. Besonders an den Flanken des mittigen Weißaugengebirges. Anfangs zeigen sich die geschuppten Gegner noch unkoordiniert und tölpelhaft, einzig ihre enorme Stärke und sonst nur von Orks bekannte Brutalität weiß zu schrecken (vergleiche die aktuellen Aufzeichnungen der Wassermagier Setarrifs). Doch spätestens als sich unzählige Horden über Setarrif ergießen, in Kooperation mit dem Drachen die Stadt verwüsten und sogar ihre eigenen Toten mitleidslos zu ihren Zwecken einsetzen, muss auch dem letzten Zweifler klar geworden sein, dass Beliar einen neuen Schrecken auf die Menschheit loslässt. (Weitere Informationen geben die Überlebenden des schrecklichen Drachenangriffs aus Setarrif.) Es folgt ein ebenso gnadenloser Überfall auf das Sumpfgebiet (mehr weiß die Bevölkerung Schwarzwassers) im Südwesten der Insel und vereinzelte Übergriffe auf die landwirtschaftlichen Flecken des thorniarischen Hinterlandes (Berichte und Tagebuchaufzeichnungen von Bauern, Webern und Großhändlern Thorniaras).
Heute ist von der viel gerühmten, goldenen Stadt Setarrif nichts als Ruinen geblieben. Der kaltblütige Schrecken geht dort ein und aus, ihr Herr, der Weißaugendrache, errichtet dort, wie zum Hohn all der guten Menschen, die ihr Leben ließen, zwischen den sterblichen und monumentalen Überresten sein Nest. Ein weiterer Vorstoß der Drachenarmee kann vorerst durch die Sprengung der Brücke im Südosten der Stadt Thorniara wirksam gestoppt werden. Dieser Militäreinsatz unter Führung diverser Gemeinschaften des Ordens zeigt sich sehr effektiv und ermöglicht den Bauern eine Rückkehr auf ihre Höfe. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis die blutlüsternen Kreaturen eine Alternative zu diesem bisher einzig bekannten Weg nach Norden finden. Auch im Westen steht es um die Insel nicht besser. Zwar schaffen es die Überlebenden des Waldvolks das Bluttal weitestgehend echsenfrei zu halten und können so weitere Angriffe auf das thorniarnische Hinterland verhindern, doch ihre ehemalige Residenz wird nicht nur von den Echsen heimgesucht, sondern nun auch noch von Schlimmeren, wie man munkelt. Es soll sich um Dämonenhorden handeln, die es erst mit der Echsenarmee später aber mit dem Sumpf selbst aufgenommen haben (Gerüchte von verrückten Einsiedlern und Sumpfschamanen (Kann und darf solchen Leuten, die ihre Gesichter hinter Knochenmasken oder ihre Leiber unter Wolfsfellen verstecken überhaupt geglaubt werden?)). Wie es zusammenpasst, das zwei von Beliars Getreuen gegeneinander ziehen, ist bis zu diesem Zeitpunkt ungeklärt. Auch von Kämpfen zwischen Orks und Echsen ist die Rede. Bündnisse zwischen diesen Scheusalen sind nicht bekannt. Gewisse Strömungen des Beliarkultes behaupten, dass dieser Drache nichts mit ihrem Gott zu tun hat. Soll es wirklich wahr sein, dass der Drache sich nicht dem Chaotischen Gott unterordnete, oder ist es möglich, dass das Band zwischen Beliar und seinem Diener zerriss, als man in Thorniara während des zweiten Drachenangriffs einen gefährlichen Drachen- und Beliaranhänger den läuternden Flammen übergab? (Siehe die Aufzeichnungen der Kerkerwache)
Wie auch immer sich die Beziehung zwischen dem Drachen und einem möglichen Herren gestaltet, nun da der Winter auch die südlichen Inseln erreicht hat, können die Menschen ein wenig durchatmen und das schlechte Wetter genießen. Denn seit die bisweilen eisigkalten Winde über das Gebirge streifen, haben sich die Echsen vorerst zurückgezogen. Dies ist der richtige Zeitpunkt, trotz der Gefährdung durch schlechte Wetterlagen, tief in das Gebirge zu reisen und mehr über die fremdartigen Invasoren herauszufinden. Diverse Expeditionen sind unterwegs, mit Spannung erwartet man deren Berichte, sofern sie denn zurückkehren.

Wer nun aber ist der Feind?

Die folgenden Informationen sind nach langer, gefährlicher Recherche zusammengetragen worden und haben keinen allumfassenden Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit. Es ist nicht möglich, sich unter die Echsen zu begeben, jede friedliche Annährung endete mit desaströsen Fehlschlägen. Daher können nur eigene Beobachtungen und Augenzeugenberichte zu Rate gezogen werden. Da die Quellen aus Furcht vor jedweder Verfolgung ungenannt bleiben möchten, werden sie hier nicht weiter angegeben. Es soll jedoch auf die Ausgabe des Myrtanischen Boten vom November vorletzten Jahres hingewiesen werden.

Es ist bekannt, dass die Echsenmenschen vor Einschlag des Dracheneis auf der Insel existiert haben müssen. Von vergleichbaren Populationen ist bekannt, dass sie unter den richtigen Bedingungen lange Perioden in einem tiefen und Kräfte schonenden Schlaf verbringen können. Dieser todesähnliche Ruhezustand kann über bisher nicht bekannten Zeitspannen durchgehalten werden. So kann angenommen werden, dass die Reptiloiden tief in verborgenen Kammern im Gebirge ruhten und erst mit dem Schlupf des Drachen in Aktion traten. Dieses könnte auch ihr anfänglich vorsichtiges und bisweilen unbeholfenes Verhalten erklären. Die Kreaturen mussten das Leben oberhalb der Erdoberfläche erst wieder erlernen, so wie sie auch die Gegend und ihre Bewohner erst kennenlernen müssen.
Da es aus anderen Gebieten bekannt ist, das die Echsenmenschen sich selbst als Dienerkreaturen eines Drachen verstehen, ist ihr gemeinsames Auftauchen mit dem Weißaugendrache nicht verwunderlich. Diesem herrischen Geschöpf bringen sie uneingeschränkten Gehorsam entgegen. Dieser geht so weit, dass die Bedürfnisse des Individuums hinten an stehen. Es ist das Kollektiv von besonderer Wichtigkeit, dessen übergeordnetes Ziel es wiederum ist dem Drachen zu dienen, ihn zu versorgen und seine Herrschaft über das von ihm erwählte Gebiet zu sichern. Eigene Ansprüche auf Beute oder Habe hegen sie dabei nicht. So sind keinerlei Streitereien oder Rivalitäten unter den Echsen bekannt. Besonderer Respekt kommt den sogenannten Ersterwachten zu. Diese Echsen waren mit die ersten, die aus den Höhlen hervorgekrochen kamen und somit die längste Zeit hatten Erfahrungen für die Pflege des Drachen, bei der Nestorganisation, in der Umgebung, bei der Jagt oder im Kampf zu sammeln. Sie dienen den anderen Kreaturen als Anleiter, bis diese ebenfalls ausreichende Erfahrungen gesammelt haben.
Alle Echsenwesen eines Kollektivs scheinen den Willen ihres Drachen verspüren zu können. Sie erhalten so auf telepathischem Wege ihre Anweisungen und Befehle. Doch es zeichnen sich einige besondere Echsenindividuen heraus, die eine besonders intensive Verbindung zu ihrem Herrn haben. Diese Echsen werden von den anderen Echsen beinahe so umsorgt, wie der Drache selbst. Auch sie verlassen in der Regel nicht das Nest und widmen sich neben der Organisation des Kollektivs und der Delegierung von Arbeiten den höheren und arkanen Künsten. Ob es sich dabei um vollwertige Magie handelt, konnte nicht abschließend geklärt werden. Deutlich wird aber, dass diese, von den wenigen privilegierten Echsen ausgeführten Handlungen, einer magischen Repräsentation sehr nahe kommen.
Im Kampf und auf der Jagd verhalten sie sich vornehmlich gleich. Der Angriff erfolgt immer aus dem Hinterhalt und wird mit äußerster Brutalität und Effektivität durchgeführt. Das Leben der Echsen steht dabei nicht im Vordergrund. Vielmehr ist es ihr Ziel, den Gegner zu vernichten. So ist eine Flucht der Kreaturen im Falle einer Unterlegenheit auch nur selten zu berichten. Wenn überhaupt, dann fliehen die Echsen erst kurz vor der völligen Vernichtung. Die Verständigung verläuft über Zisch- und Knurrlaute, mit denen eine ausreichende Koordination des Angriffs sichergestellt werden kann. Diese Art der Kommunikation ist so erfolgreich, dass die schnellen Überfallkommandos nachhaltig den Terror in das angefallene Gebiet tragen. Die Angreifer verzichten auf Beute, lassen Lebensmittel unberührt und greifen sich wenn überhaupt nur fallen gelassene Waffen oder Dinge, die als solche zu benutzen sind. Der Hauptzweck ihrer Angriffe ist immer das Verbreiten von Schrecken. Dieses erreichen sie durch das blutrünstige Niedermachen ihrer Opfer, durch Nichtschonung von Alten, Frauen und Kindern sowie durch die völlige Zerstörung von Ortschaften. Das Fehlen jedweder Gnade oder dem Sinn nach Gefangenen und Sklaven sowie Beute verängstigt die Bevölkerung nachhaltig. Wie es scheint, führen sie ihre Guerilla-Kämpfe nur mit dem Willen menschliches Leben zu vernichten. Die verbreitete Angst wächst noch dadurch, dass die Echsen auch nicht davor halt machen, menschliche Leichen zu verzehren. Den Ersterwachten stehen dabei die besten Teile zu. Bleibt für jedes Opfer nur zu hoffen übrig, dass es erst erschlagen und dann zerrissen wird.

Woher nun aber kommt diese Brutalität und Opferbereitschaft?

Von wenigen, nicht unter der Herrschaft eines Drachen lebenden Populationen wissen R. A. P. Thor et al.; I. Gator und V. Aran, alles renommierte Saurologen, zu berichten. Aus den dort gewonnenen Erkenntnissen können einige Theorien abgeleitet werden.
Die zwei bis drei Schritt hohen Kreaturen, bei denen es augenscheinlich keinerlei Unterschiede zwischen der männlichen und der weiblichen Exterieur gibt, bevorzugen wärmere Lebensräume. Daher sind sie auf Habitate angewiesen, wie die südlichen Inseln. Zwar kommt es immer wieder vor, dass sie auch ein gemäßigtes Klima vertragen, doch hierbei muss die Art schon erhebliche Einbußen an Reaktionsfähigkeit und Agilität hinnehmen. So wurde beobachtet, dass frierende oder geschwächte Wesen von dem normalerweise üblichen Zweifüßlergang zurück in einen eher als Kriechen zu bezeichnenden, vierfüßigen Gang zurückfallen. Da sie als reine Karnivoren in großen Kolonien lebend, einen hohen Bedarf an tierischer oder eben auch menschlicher Beute haben, benötigen sie ein ausgedehntes Jagdgebiet, welches die gegen Rivalen zu verteidigen wissen.
Das gut organisierte Kollektiv, in dem jedes Individuum einer bestimmten Arbeit nachgeht, hilft diesen mäßig intelligenten Kreaturen, ihr Überleben zu sichern. Eine besondere Wichtigkeit räumen die Fachleute dabei der inneren Ordnung des Kollektivs ein. Das einzelne Individuum ist immer weniger Wert als die Gruppe und führt, wie schon erwähnt, nur seine zugeteilte Arbeit aus. Diese Arbeiten wechseln in einer festgelegten Reinfolge je nach Lebenserfahrung des einzelnen Wesens. Anfangen muss eine jede Echse mit niederen Arbeiten innerhalb des Nestes. Dazu gehört das Reinigen, die Fleischkonservierung durch Trocknung in speziellen Kammern, das Herstellen einfacher Gegenstände, die Versorgung der Nesthocker (wozu im weiteren Sinne auch ein Drache gehört) und auch die Brutpflege, beziehungsweise die Pflege der noch nicht erwachten Artgenossen. Später werden die Jungerwachten zu Nestbauern oder Heizern, die für den Zustand und das Klima des Nestes verantwortlich sind. Dann folgt die Ausbildung zum Jäger und Kämpfer. Dies ist der Zeitpunkt, wenn die Echsen das erste Mal das Nest verlassen. Nur die erfahrensten werden zu Kundschaftern. Sie legen außerhalb des Nestes die weitesten Strecken zurück. Dieses Vorgehen ermöglicht es auch beim Wegfall von Teilen der gesamten Population flexibel auf solche Einbußen zu reagieren. Bereits erfahrenen Wesen können ohne Probleme zu früher erledigten Arbeiten zurückwechseln und jüngere werden befördert.
Da eine jede Echse mit dem Kollektiv verbunden ist, fällt es den Wesen nicht schwer, schnell gemeinsam eine Entscheidung zu treffen. Dieses geschieht in der Regel basisdemokratisch, da jede Echse das gleiche Stimmrecht besitzt. Jedoch sind es die erfahrenen Echsen, die Lösungsoptionen zur Wahl stellen. Diese bei höher entwickelten Wesen einzigartige Fähigkeit Probleme zu lösen, stellt ein hohes Maß an Gruppenintelligenz dar. Hinzu kommt ihr Glaube an die Reinkarnation. Eine jede Echse geht davon aus, dass sie aus der Dunkelheit gehoben wurde, wenn sie ihren Lebenszyklus beginnt und auch in diese Dunkelheit zurückkehrt, zu ihren noch schlafenden Genossen, in dem Moment, wo ihr Körper den Dienst versagt, nur um dann wieder aus der Dunkelheit hervorzutreten. Sie glauben, aus einem größeren Kollektiv zu stammen und dort jederzeit ein und ausgehen zu können.
An dieser Stelle greift ein Drache in das einfache Wesen dieser Kreaturen ein. Über magische Synapsen mit dem Echsenvolk verbunden vermögen es die höherentwickelten und magiebegabten Drachen, den einfachen Verstand der Echsenindividuen zu manipulieren und so willige Diener zu erschaffen. Seine telepathisch übertragenen Befehle erreichen die Echsen auf demselben Wege, wie ihr kollektiver Sinn. Der Drache vermag es also, die kollektiven Abstimmungen der Echsen zu unterbinden und stattdessen seine eigenen Willen ausführen zu lassen. Hierbei sind ihm die seltenen magiebegabten Echsen eine willkommene Hilfe. Sie empfangen die Wünsche des als parasitär zu bezeichnenden Drachenverstandes und leiten diese auf die volle Größe des Kollektivs um. So kann der Drache mit wenig Aufwand auch eine stark wachsende Population im Griff behalten.
Zusammenfassend ist also zu sagen, dass der natürliche Trieb des Reviererhalts, sowie die bestehende Schwarmintelligenz von dem weitaus höher entwickelten Drachen ausgenutzt werden, um sich durch Diener versorgen und beschützen zu lassen. Daraus lässt sich schließen, dass diese Kreaturen nur ihren natürlichen Bedürfnissen folgen, diese jedoch vom ins Kollektivbewusstsein eingenisteten Drachen pervertiert und zu seinen eigenen Zwecken verwendet werden.

(-- Olivia Rabenweil)