Die Ballade vom Steg (Dumak)
Am lichten Fenster seines marmornen Palastes
Ethorn der Erste stand und schaute still hinaus.
Neben sich den Stolz des edlen Königsstammes,
Seinen jüngsten Sproß aus Argaans Herrscherhaus.
„Sag Vater“, sprach der Jüngling zu ihm leise fragend.
„Wie kann die Größe unsres Reichs bemessen sein?
Ist es die Höh', in die des Goldes Berge ragen,
Das glänzt in unsren Kammern hell im Fackelschein?
Sind es all der Inseln, Länder weite Flächen,
Die unser Kämpfer Rösser stampfend Huf' berühr'n?
Ist es die Zahl an fleißig schaffend Untertanen
Die die Größe des berühmten Argaans schür'n?“
Der Vater hörte lächelnd seines jungen Sohnes
Versuche, Argaans Größe zu beschreiben, an.
Und gab ihm dann die heiß ersehnte weise Antwort,
Über die der Knabe schon so lange sann.
„Reichtum, Volk und blühend Land sind leicht zu zählen
So mancher schon gedacht, dies sei die wahre Macht,
Die Argaans Reich landauf, landab in aller Munde
So siegreich, schön, erhaben und so strahlend macht.
Doch höre gut, der wahre Grund für Argaans Wachsen,
Warum wir herrschen über weites Erdenrund,
Ist dieser halb vermodert hölzern Steg am Ufer,
Der sich tut dort unten deinem Blicke kund.
Von diesem unscheinbaren Steg sind aufgebrochen
Unsre Flotten mit der Winde wechselnd Bahn.
Feshyr, Korshaan, Torgaan selbst Khorinis' Küsten
Sind dank ihnen Argaans König untertan.
Und seit Jahr und Tag treibt unser Volk dort Handel,
Mehrt den Reichtum mit so manchem seltsam Tand.
Denn die überbordend schwer belad'nen Schiffe
Bringen all die Waren her aus fernem Land.“
„Aber warum haben wir denn keinen Hafen?
Vater sag!“, bedrängt der Sohn den König nun.
„Das unser festes und so weit berühmtes Reiche
Von einem dürren Stege kam, läßt mich nicht ruhn!“
„So höre denn das alte, düstere Geheimnis:
Ein Gesetz der Götter gibt es, das uns zwingt,
Bei einem Hafen auch ein Viertel einzurichten,
In das man aller Herren Länder Waren bringt.
Voll mit Tavernen, Schenken und auch dunklen Ecken
Hat obendrein zu sein die Gegend angefüllt.
Mit zahllos Dieben, Huren und auch Beutelschneidern.
Von Unrat und Kloaken Düften ganz umhüllt.
Dazu muß dieses überflüssig Hafenviertel
Auf eine Höhe mit den Straßen dieser Stadt,
Denn Treppen haben Götter wohl noch nicht erfunden.
Frage nicht, welch hochgelehrten Sinn das hat!
So müßten wir des Meeres gischtgefüllte Wogen
Bändigen mit großer Schleusen Tore Kraft.
Doch so ein sagenhaftes Riesenwerk des Wunders
Wurd zu erdenken und errichten nie geschafft.
Dies ist der Grund, weshalb wir keinen Hafen haben,
Sondern nur den kurzen, schwachen, schwankend Steg.
Meist sind die Weisungen der Götter voller Klugheit,
Doch manchmal sind den Menschen sie auch nur im Weg.“
„Die Götter sind gar wunderkomische Gesellen,
Wenn einst auf Argaan sie solch Spruche angewandt.
Ich hört noch nie von solchem widrigen Geschicke“,
So sprach der Sohn. „In keinem noch so fernen Land.“
Doch wird es bis in unsre Tage so gehalten.
Ethorn der Sechste acht' die Regeln seines Ahns:
Setarrif bleibt ohne Hafen doch mit Tempeln,
Trotz der hohen Götter Narretei und Wahns.