SETARRIFImmigranten weit und breitUnruhig trommeln die dicken, mit Ringen bewehrten Finger Theodorus‘ des Jüngeren auf der Tischplatte, während er aus dem Spitzbogenfenster des Turmzimmers im Palast Setarrifs hinab auf die alte Lagerstätte, das Armenviertel der Stadt, blickt. „Die Lagerstätte wird noch aus allen Nähten platzen“, stößt der feiste Adelige mit krächzender Stimme hervor, blickt entschuldigend drein und nimmt einen etwas zu tiefen Schluck verdünnten Weines aus dem goldenen Trinkkelch vor ihm. Doch es ist nicht die übertriebene karitative Sorge eines Mannes, dessen Familie in zwölfter Generation dem niederen Adel Argaans angehört und dessen Besitztümer die Vorstellungskraft der meisten Menschen, auf die er hinab blickt, bei weitem zu sprengen vermögen, sondern die zuhöchst egoistische Befürchtung, der Raumbedarf der auch anderweitig bedürftigen Bevölkerung könnte schon bald die Grenzen des Elendsviertels sprengen und sich auf den Rest der Stadt auswirken.
Und es ist wohl dieser Moment, in dem sich die Blicke des Adeligen und eines verarmten Mannes weit unter ihm in den Gassen der alten Lagerstätte treffen, der eindrücklich den krassen Gegensatz zwischen arm und reich, die so präsente territoriale Nähe und gleichsam unumstößliche soziale Schere zwischen Elend und Hunger gegenüber Prunk und Protz darstellt, wie man sie wohl nur hier in Setarrif, der Perle Argaans, anzutreffen vermag.
Doch so unverständlich der Kummer des Landgrafen, der sich aufgrund einer Audienz bei seinem Herrn, Ethorn VI., im Palast aufhält, auch zu sein scheint, so trägt er doch nicht zu verleugnende Ursachen in sich. So sind innerhalb weniger Wochen wahre Horden an Immigranten in die Stadt geströmt, die allesamt vom Festland zu kommen scheinen. Ein guter Teil dieser Menschen kam mit einem Schiff der Hofmagier, einem kleinen Kreis weltlichen Belangen zugewandterer Wassermagier, die sich am Hofe bewegen, aus einer Siedlung in Südvarant, in der eine weitere, leider unterdrückte und verfallene Adanoskultur vermutet und gefunden wurde. Diese Immigranten wurden zeitweilig im ansonsten nur dem setarrifischen Kreis des Wassers vorbehaltenen Haus der Magier untergebracht, da sich auch einige Wassermagier unter ihnen befanden, doch werden nun nach und nach alle nicht dem Kreis angehörigen Menschen ausgesondert und landen mittellos in der alten Lagerstätte, deren ohnehin schon sehr stark begrenzter Raum nun noch enger zu werden droht.
Aber nicht nur aufgrund dieses Ereignisses kann man von einem bedenklichen Zustrom sprechen. So hatte die jüngst in Thorniara eingesetzte festländische Regierung den an der Rückeroberung des Festlandes maßgeblich beteiligten legendären General Lee, der nach seinen militärischen Meisterleistungen unter Rhobar I. gegen die Generäle Gellon und Lukkor um die Eroberung Varants durch interne Machtkämpfe am Hofe verhaftet und in eine Strafkolonie verbannt worden war, um sich nach dem Fall der Minenkolonie lange Zeit vom myrtanischen Reich abzuwenden und schließlich erst im Kampf um die erneute Eroberung des Festlandes wieder unter myrtanischem Banner zu kämpfen, zur Aufklärung der Lage auf Argaan mit seinen Söldnertruppen nach Setarrif geschickt, um die derzeitige politische Situation im direkten Gespräch mit Ethorn VI. zu klären. Dem setarrifischen Herrscher jedoch scheint es gelungen zu sein, den General und die dazugehörigen Krieger aufgrund der schlechten Behandlung von Lees Truppen unter myrtanischer Flagge zu bekehren und für seine Sache gewinnen zu können, wenngleich sich der Respekt der setarrifischen Truppen, vor allem der hochgeschätzten Krieger der Akademie Setarrifs, nur durch Bestätigung im Zweikampf erringen ließ.
Diese Truppen, wenngleich sie eine wichtige Verstärkung der setarrifischen Truppen und ein schmerzhafter Dorn im Fleisch der myrtanischen Streitkräfte sein werden, müssen nun also ebenfalls – auf Kosten des Königshauses – versorgt und untergebracht werden und prägen mit ihrer… rustikalen Art maßgeblich das Stadtbild außerhalb der alten Lagerstätte mit.
„Diese Barbaren! Ich sehe schon, wie sie den Marmor von den Wänden der alten Bauten reisen, um sich ihre eigenen stümperhaften Hütten daraus zu bauen, oder wie sie das Gold von den Kuppeln kratzen, um sich daran zu bereichern! Es ist wie eine Seuche, die unsere Kultur auffrisst, und selbst in der altehrwürdigen Bibliothek findet man keinen Rückzugsort vor den Fremden, seit diese Schwemme an Magiern vom Festland herrscht!“
Armer Theodorus, mag man sich mit einem Augenzwinkern denken. In der Tat prägen die neuen Einwanderer vom Festland das Stadtbild der letzten Wochen aber ein gutes Stück weit, und man darf gespannt sein, wie sich diese Konstellation der neuen Einwohner in Verbindung mit den Umstrukturierungen in Thorniara auf das zukünftige Leben in Setarrif, der Perle Argaans, auswirken wird.
(--Maris)