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World of Gothic



01. Murdra | 02. Das Messer | 03. Rauch im Gebirge | 04. Gerüchte vom Kontinent | 05. Groms Hand | 06. Der hölzerne Wirt | 07. Der Fremde | 08. Der schwarze Krieger | 09. Ped | 10. Nummer drei | 11. Holz auf Stein | 12. Blutnattern | 13. Die Freiwilligen I | 14. Die Freiwilligen II | 15. Zum später zahlen | 16. Tot ist tot | 17. Schuld |




von Hans-Jörg Knabel



Murdra hatte sich fast die Seele aus dem Leib gekotzt, als sie mit Rauter von der Vorratshöhle zurück in die Küche gehetzt war. Jetzt stand sie hinter der Anrichte, die Achseln schweißnass, den bitteren Nachgeschmack klebrig auf der Zunge, und tastete nach dem Holzbein, das sie bald nach Belgors Tod neben den Suppenschüsseln verstaut hatte, um es in ihrer Nähe zu haben. Das Bein gab ihren Fingern Halt, aber es vermochte ihre Nerven nicht zu beruhigen. Sie kommen, dachte sie, und immer nur: Sie kommen! In ihrer Vorstellung war die Gespaltene Jungfrau schon zu einem rauchenden Haufen Schutt zerfallen und Belgors Bein zu Asche verbrannt. »Nein!« murmelte Murdra entschlossen und zog das Holzbein unter der Anrichte hervor. Ich werd’s retten, schwor sie. Egal was passiert! Sie umfasste das Bein fester und ließ ihren Blick ratlos durch den Schankraum schweifen.

Vor dem großen Fenster zum Meer drängten sich die Gäste, pressten ihre Nasen gegen die Scheiben und deuteten lauthals die Zeichen, die ihnen die Nebelschwaden preisgaben oder verbargen.
»Segel!«
»Wo?«
»Dort drüben, mindestens zehn!«
»Ich kann sie nicht sehen!«
»Bist du blind?«
»Das dort? Das sind doch nur Bäume.«
»Denkst wohl, ich kann Bäume nicht von Segeln unterscheiden, was?«
»Das bringt nichts!« übertönte Rauters Stimme die anderen Rufe. »Der verdammte Nebel macht uns nur närrisch, richtig? Mann, wir sollten lieber die Lichter löschen, dann finden sie uns nicht!« Ein zustimmendes Raunen ging durch die Menge; erste Kerzen und Fackeln wurden hastig gelöscht.
»Warum lasst ihr die Lichter nicht einfach brennen?« fragte eine Stimme, die Murdra gänzlich unbekannt war. Erst jetzt bemerkte sie den Fremden, der gar nicht weit von der Anrichte entfernt am Tisch neben dem Eingang saß. Er trug ein weißes Hemd mit weiten Ärmeln unter einer braunen Lederweste und hatte sein angegrautes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Säbel, der in einer prächtigen Scheide steckte.
Auch das noch, dachte Murdra. Ein Pirat!
Rauter blieb neben dem Tisch des Piraten stehen. »Die Myrtaner kommen und greifen uns an«, erklärte er. »Wir müssen uns schützen, richtig?«
»Indem ihr im Dunkeln sitzt?«
»Dann können sie die Jungfrau nicht finden!«
Der Pirat sah nicht sonderlich überzeugt aus. »Wenn es wirklich die Myrtaner sind, kennen sie die Taverne und wissen, wo sie steht«, warf er ein. »Und falls sie sie heut‘ Nacht nicht finden, dann morgen Früh.«
»Verfluchte Scheiße, du hast Recht, richtig?« fluchte Rauter. »Was sollen wir tun?«
»Nichts«, antwortete der Pirat.
»Nichts!? Sie werden uns abschlachten!«
»Ihr seid keine Soldaten«, sagte der Pirat. »Die Paladine werden euch rumscheuchen und euch viel über Ordnung und Innos erzählen, aber tun werden sie euch nichts.«
»Da hab‘ ich aber anderes gehört«, wandte Grengar ein, der ganz in der Nähe stand und seine Holzfälleraxt nervös in der Hand hielt.
»Klatsch und Tratsch«, erwiderte der Pirat.
Grengar öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ein drängendes »Psst!« hielt ihn ab.
»Da sind Schritte auf dem Hof«, flüsterte jemand.
»Die Myrtaner.«
Sie kommen!
»Das sind nicht die Myrtaner«, sagte der Pirat. »Das ist ein Freund.«
»Woher willst du das wissen?« raunte Grengar misstrauisch.
»Ich kenn‘ ihn schon lang‘«, antwortete der Pirat. »Ich weiß, wie er klingt, wenn er geht.«
»Du lügst«, zischte Grengar. »Ein Spion bist du, willst uns den Myrtanern ausliefern. Aber wir Holzfäller von Stewark, wir lassen uns nicht verarschen!« Er hob seine Holzfälleraxt und stellte sich schlagbereit vor die Tür. Der Fremde verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf, machte aber keine Anstalten zum Säbel zu greifen. Alle starrten auf Grengar, auch Murdra, die bemerkte, dass seine Arme leicht zitterten.
Dann wurde die Tür aufgestoßen.


Der Schwarze Krieger



Innos hilf, dachte Murdra und presste sich das Holzbein an die Brust. Über die Schwelle trat ein muskelbepackter Krieger von dunkelbrauner Hautfarbe. Er trug eine schwere Lederrüstung, die seine muskulösen Arme freiließ und durch geschwungene Eisenplatten an den Schultern verstärkt war. Eine mächtige, zweischneidige Streitaxt ragte über den Eisenplatten der rechten Schulter hervor. Murdra hatte schon vorher einen Schwarzen Krieger gesehen, aber der hatte nicht solch eine Axt auf dem Rücken gehabt. In der linken Hand hielt der Schwarze Krieger einen Eisenhandschuh, aus dessen Schaft Blut tropfte.
Grengar regte sich nicht. Der Schwarze Krieger blieb stehen, runzelte leicht die Stirn und schaute neugierig auf den Holzfäller und die Axt, die er in seinen Händen hielt. »Was ist das?« fragte er gelassen und zeigte mit dem Finger auf die Axt.
»M... meine Axt«, stotterte Grengar.
Der Schwarze Krieger lachte. »Das soll ‘ne Axt sein, Kleiner? Das ist ein Äxtchen.« Er deutete mit dem Daumen hoch zu seiner Schulter. »Das ... ist ‘ne Axt!« Dann ließ er Grengar stehen, ohne ihn weiter zu beachten, und ging zu dem Tisch, an dem der andere Fremde saß. Grengar ließ die Arme sinken und schaute dem Schwarzen Krieger hilflos hinterher. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
»Hier«, sagte der Schwarze Krieger, als er den Tisch erreicht hatte, und ließ den Eisenhandschuh, aus dessen Schaft noch immer Blut tropfte, krachend auf die Tischplatte fallen. Eine Schlange, so rot wie das Blut, das sich auf dem Eichenholz zu einer kleinen Lache sammelte, zierte den Rücken des Handschuhs. Der Pirat musterte flüchtig das Wappen. »Blutnattern«, sagte er.
»Rund zwei Dutzend«, tönte der Schwarze Krieger. »Sind mit zwei Booten gelandet, unten am Strand. Jetzt sammeln sie sich und haben ein paar Späher losgeschickt. Einen hab‘ ich erwischt. Hatte sich ‘n Mädel geschnappt, wollte es ausquetschen.«
»Jilvie?« fragte Rauter besorgt.
»Woher soll ich das wissen?« tönte der Schwarze Krieger. »Hat gekotzt, als ich dem Toten die Hand abgehackt hab‘. Dann ist sie abgehauen, in den Nebel.«
»Diese Blutnattern … das sind Myrtaner, richtig?« fragte Rauter.
Der Pirat nickte mit dem Kopf. »Es sind Söldner, Drurhangs Männer«, sagte er. »Sie haben keinen guten Ruf.«
»Was meinst du damit?« fragte Grengar.

Der Schwarze Krieger schaute über die Schulter zu ihm zurück. »Jetzt, Kleiner, kannst du zeigen, was dein Äxtchen taugt«, sagte er knapp, dann verließ er den Tisch und stieg die Treppe hoch, die in das obere Stockwerk der Taverne führte.
»Jag‘ ihnen einen ordentlichen Schrecken ein, mein Freund«, rief der Pirat seinem Freund nach, »aber wart‘ ab, bis sich ein paar von ihnen hier im Schankraum drängen.
»Ja, ja«, brummte der Schwarze Krieger und ging weiter die Treppe hinauf. »Ja, ja.« Dann konnte Murdra ihn nicht mehr sehen. Nur noch seine schweren Schritte waren direkt über ihr auf der Empore zu hören. Oben ertönte ein lautes Krachen und bald darauf noch eins. Wird mir noch das Geländer zertrümmern, der Hund, dachte Murdra und starrte missmutig auf einen Holzsplitter, der von der Empore hinab auf die Anrichte gefallen war.
»Ein Kampf ist also unausweichlich, richtig?« fragte Rauter.
»Ja«, sagte der Pirat. »Wer einen Bogen hat, geht am besten nach oben, auf die Balkone, und schießt von dort auf alles, was er im Hof unten hört. Der Rest versteckt sich am besten in der Scheune und greift die Blutnattern von hinten an. Aber wartet ab, bis ihr meinen Freund dort oben rufen hört. Das soll unser Zeichen sein.«
Die Männer verließen den Tisch. Einige folgten dem Schwarzen Krieger ins obere Stockwerk, andere gingen rüber in den Stall. Nur Murdra und Rauter blieben zurück. Der Pirat stand von seinem Stuhl auf und nahm seinen Säbel vom Tisch. »Was ist mit dir?« fragte er Rauter.
»Ich werd‘ euch hier drinnen zur Seite stehen, richtig?« sagte Rauter. »Hab‘ ‘n Auge auf die Küchentür. Wenn einer reinkommt, schlacht‘ ich ihn ab, kein Problem!«
Der Pirat nickte mit dem Kopf. »Und du?« fragte er Murdra.
»Ich bleib‘ in der Küche«, sagte sie bestimmt.
Der Pirat zuckte mit den Schultern, dann drehte er sich um, ging in den hinteren Teil des Schankraums und verschwand im Weinkeller. Bald darauf hörte Murdra, wie der schwere Balken, mit dem sie nachts das Außentor verriegelte, vorgelegt wurde. Rauter ging zur Küchentür, drehte den Schlüssel im Schloss um und prüfte, ob die Tür auch wirklich verriegelt war. »Das wird schon«, sagte er aufmunternd, als er sich zu ihr an die Anrichte stellte.
Dann begann das Warten.

Nach einer Ewigkeit hörte Murdra Schritte und leises Waffengeklapper im Hof. Rauter duckte sich hinter die Anrichte. »Du gehst besser auch in Deckung, richtig?« flüsterte er ihr zu, aber Murdra dachte nicht daran. Sie wollte sehen, was in ihrem Schankraum passierte. Dann war es zu spät, sich anders zu entscheiden. Mit einem lauten Knall wurde die Tür aufgetreten und ein gutes Dutzend Krieger, denen das Zeichen der roten Schlange auf der Brust prangte, stürmte herein. Zwei von ihnen hielten Armbrüste im Anschlag, die anderen waren mit Schwertern und Streitkolben bewaffnet. Einer von ihnen erblickte Murdra, blieb mitten im Schankraum stehen und grinste sie an.
»He Tock«, donnerte er, »schau mal, die wär‘ was für dich. Die ist noch hässlicher als deine letzte Frau!« Er kam lachend auf die Anrichte zu und baute sich vor Murdra auf. »Keiner da, was?« fragte er spöttisch. Murdra schüttelte hastig den Kopf. Der Krieger lachte wieder und spuckte vor sich auf den Boden. »Wir werden sie schon aus ihren Löchern treiben. Notfalls fackeln wir die Hütte einfach ab!« donnerte er, dann griff er über die Anrichte und packte Murdra an der Kehle. »Hast du ‘nen hässlichen Krieger mit schwarzer Haut gesehen, einen mit ‘ner richtig dicken Axt? Oder einen, der aussieht wie ‘n Dieb mit ‘nem teuren Säbel?« Murdra bekam keine Luft. »Komm schon, spuck‘s aus! Vielleicht lassen wir deine Hütte ja steh‘n.« Der Krieger lockerte den Griff um Murdras Kehle. Sie musste husten und japste nach Luft. Über sich hörte sie einen schnellen, schweren Schritt auf dem Dielenboden, dann ein lautes Knirschen und das Splittern von Holz.
Von einem Moment auf den anderen krachte das Geländer der Empore in den Schankraum. Es traf den Krieger, der vor Murdra stand, am Hinterkopf und schmetterte sein Gesicht auf die Anrichte, dann riss es drei weitere Krieger zu Boden. Zwei Bolzen sirrten ziellos durch den Raum. Gleich darauf sprang der Schwarze Krieger unter wildem Gebrüll von der Empore herab in den Schankraum und stieß einen der Angreifer noch im Sprung mit dem Griff seiner Streitaxt zu Boden.
»Ich bin Gorn«, donnerte der Schwarze Krieger und holte mit der Streitaxt aus. »Und du?« Der Krieger, der vor ihm stand, hatte keine Zeit zu antworten. Er versuchte seinen Schild anzuheben, aber er war zu langsam. Die Streitaxt des Schwarzen Kriegers traf ihn dröhnend am Helm und schmetterte ihn zur Seite. Die anderen Angreifer wichen hastig zurück, auf die Tür des Weinkellers zu, aus der der Freund des Schwarzen Kriegers mit seinem Säbel stürmte. Rauter hatte sich ebenfalls erhoben und stürzte sich mit seinem Schwert auf einen der Krieger, der versuchte, sein Bein unter dem schweren Geländer hervorzuziehen.
»Ich steh‘ auf den Scheiß!« brüllte der Schwarze Krieger, der seine Streitaxt vor sich durch die Luft wirbeln ließ.

Auch vom Hof war jetzt Kampflärm zu hören. Murdra starrte auf den Krieger, der mit dem Oberkörper zuckend auf ihrer Anrichte lag und auf die matschige Stelle auf seinem Hinterkopf. Sie spürte bittere Galle in sich aufsteigen. Raus hier, dachte sie, dann eilte sie zur Küchentür und drehte den Schlüssel im Schloss um.
Kaum hatte sie die Tür aufgerissen, sprang ihr ein dunkler Schatten aus dem Nebel entgegen. Murdra schwang das Holzbein, traf den Angreifer seitlich am Helm. Er strauchelte. Murdra schlug noch einmal zu. Diesmal traf sie ihn mitten ins ungeschützte Gesicht. Der Angreifer ging in die Knie. Er blutete aus der Nase und blickte Murdra benommen an. Murdra wollte die Gelegenheit nutzen und ihn endgültig niederschlagen, aber der Angreifer bekam die Lederriemen des Holzbeins zu fassen und riss ihr Belgors Bein aus der Hand. Murdra floh durch die Tür in den Nebel, den Weg entlang, der hinten an der Gespaltenen Jungfrau vorbeiführte. Neben sich konnte sie den Lattenzaun erahnen, der ihre Taverne umgab, und sie hörte das Gebrüll vom Kampf auf ihrem Hof. Erst jetzt dachte sie an das Holzbein. Futsch und verloren, für immer, dachte sie. Dabei hab‘ ich’s retten wollen. Jetzt war es zu spät. Hinter ihr auf dem Weg waren gedämpfte Fluche und Schritte zu hören. Verfolgt mich, das Schwein, dachte Murdra und verließ den Weg. Sie hastete den Hang hinauf, der in den Wald führte. Bald hatte sie die ersten Bäume erreicht.
Als sie an einem Felsen vorbeieilte, wurde sie gepackt und zu Boden gerissen. Sie wollte schreien, aber eine starke Hand lag fest auf ihrem Mund. Dann sah sie Craglans vertrautes Gesicht dicht vor dem ihren. Craglan hielt den Zeigefinger vor seine Lippen und hauchte: »Psst!« Äste knackten unter ihnen im Nebel, dann waberte eine Nebelschwade beiseite, gab den Blick auf den Krieger frei, der den Hang hinauf stapfte. Craglan nahm den Finger von den Lippen, deutete auf den Krieger. Pfeile sirrten durch die neblige Nacht. Von mehreren Pfeilen durchbohrt, fiel der Krieger röchelnd nach hinten und schlidderte ein paar Schritte den Hang hinunter. Craglan nahm die Hand von Murdras Mund. »Sind es noch mehr?« wisperte er.
»Weiß nicht«, flüsterte Murdra. Sie lauschten eine Weile angestrengt in die Nacht. Der Hang lag still vor ihnen, nur von weiter entfernt war noch immer Kampflärm zu hören.
»Es ist futsch und verloren, für immer«, schluchzte Murdra.
»Was?« fragte Craglan.
»Belgors Bein«, sagte Murdra. »Ich hab’s fallen lassen, in der Küche. Dabei hab‘ ich’s retten wollen, hab’s mir geschworen. Jetzt wird ‘s mit der Jungfrau verbrennen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Craglan und richtete sich auf. »Horch!«
Von der Gespaltenen Jungfrau klangen Jubelrufe den Hang hinauf. Wie es schien, war der Kampf vorbei und gewonnen. Murdra stand auf und eilte den Hang hinunter. Als sie die Küchentür erreichte, sah sie den Piraten mitten in der Küche stehen. Er hielt Belgors Bein in der Hand.
»Das gehört dir, nicht wahr?« fragte er. Murdra nickte, wollte es endlich wieder in ihren Händen halten. »Sieht edel aus«, sagte der Pirat anerkennend, dann hielt er ihr das ersehnte Bein entgegen. Sie nahm es und strich mit der flachen Hand darüber. Jede Kerbe war ihr vertraut. »König Ethorn hat’s machen lassen, für meinen Mann«, sagte sie mit trauriger Stimme.
»Verstehe«, sagte der Pirat.
Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin Murdra.«
»Diego«, sagte der Pirat und ergriff ihre Hand.


Kein Pirat



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