01. Murdra |
02. Das Messer |
03. Rauch im Gebirge |
04. Gerüchte vom Kontinent |
05. Groms Hand |
06. Der hölzerne Wirt |
07. Der Fremde |
08. Der schwarze Krieger |
09. Ped |
10. Nummer drei |
11. Holz auf Stein |
12. Blutnattern |
13. Die Freiwilligen I |
14. Die Freiwilligen II |
15. Zum später zahlen |
16. Tot ist tot |
17. Schuld |
von Hans-Jörg Knabel
»Pah!« zischte Murdra und stach mit dem Schüreisen mitten in die Glut. Sie stand vor dem Kamin in der Küche und hatte den Gästen den Rücken zugewandt. Im Schankraum wurde getuschelt. Murdra war sich sicher, dass die Gäste sie anstarrten oder ihr zumindest verstohlene Blicke zuwarfen.
Geben mir die Schuld, dachte sie.
Mir! Am Liebsten hätte sie das Schüreisen genommen und einmal kräftig auf die Anrichte geschlagen, aber sie beschränkte sich darauf, weiter in der Glut herumzustochern.
Wie soll ich Schuld sein? keifte sie innerlich.
War sie etwa für das Erdbeben verantwortlich, das die Insel erschüttert und den Weg ins Sumpfland versperrt hatte? Hatte sie die Räuber gerufen, die die Brücke nach Stewark besetzt hielten?
Murdra schüttelte wütend den Kopf.
Aber die Holzfäller, keifte sie in Gedanken weiter,
die sind schuld! Waren sturzbetrunken und haben sich von den Räubern verbläuen und aus ihrer Hütte an der Brücke werfen lassen, die dummen Hunde! Hätten sie weniger gesoffen, wär‘ die Brücke immer noch frei und die Jungfrau nicht abgeschnitten!Murdra warf den Schürhaken neben den Kamin und stapfte zur Anrichte. Dabei funkelte sie die Holzfäller, die an einem der Tische auf der anderen Seite des Schankraums saßen, wütend an. Die Holzfäller wichen ihrem Blick aus.
Ha, dachte Murdra.
Haben ein schlechtes Gewissen, die Dummköpfe, die vermaledeiten!Banditenlager mit Stewark im Hintergrund
Trotzdem waren sie es gewesen, die jedem, der in der Gespaltenen Jungfrau gestrandet war, erzählt hatten, dass Murdra verantwortlich sei, dass die Räuber ihretwegen da seien, dass sie sie ausbluten wollten. Was konnte Murdra dafür, dass der Anführer der Räuber früher einmal ihr Knecht gewesen war? Sie hatte sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnert. Erst als sie ihn einmal aus der Ferne beim Räuberlager hatte stehen sehen, war ein Funken Erinnerung zurückgekehrt.
Hat nichts getaugt, das Schwein! Das wusste sie noch. Aber warum er jetzt hier war und sie ruinieren wollte, konnte sie sich nicht erklären. Sie hatte nichts gemacht.
Rein gar nichts! Gut, sie hatte ihn damals rausgeworfen und beschimpft, weil er faul war und frech zu den Gästen.
Aber was soll man auch machen, mit so einem Hund, einem elenden? »Hättest ihn nicht immer mit dem Riemen schlagen sollen, vor allen Leuten«, hatte Grengar altklug gesagt. Aber waren ein paar Schläge Grund genug, eine Brücke zu besetzen und eine arme Frau auszubluten?
Eine Witwe? Da hätte Murdra ihre eigene Mutter auch ausbluten müssen.
Murdra spuckte neben die Anrichte.
Die Holzfäller waren nicht alleine schuld. Die Reisenden, die in der Gespaltenen Jungfrau gestrandet waren, hatten ihr Scherflein dazu beigetragen, dass jetzt alles ganz und gar unerträglich war. Die Holzfäller hatten zurückschlagen und ihre Hütte und die Brücke mit vereinten Kräften zurückerobern wollen, aber die meisten Reisenden hatten sich geweigert. Sie hatten auf den Baron von Stewark gesetzt, der die Räuber ganz sicher von der Brücke würde vertreiben lassen. Aber der Baron hatte keine Männer geschickt, und irgendwann war es zum Zurückschlagen zu spät gewesen, denn die Räuber hatten die Baumstämme bei der Holzfällerhütte genutzt, um Palisaden zu errichten. Würgen sollte man sie, allesamt, dachte Murdra, dann hörte sie, wie sich die Tür zum Schankraum knarrend öffnete.
»Auch das noch«, zischte sie.
Grengar!Aber es war nicht Grengar. Ein kalter Schauder jagte Murdra über den Rücken. »Unmöglich«, hauchte sie, während erstaunte Rufe im Schankraum ertönten, und tastete nervös nach dem Holzbein ihres verstorbenen Mannes, das wie immer in der Anrichte lag.
Lorn achtete nicht auf die Rufe. Er hielt direkt auf Murdra zu. Seine Augen waren schmale, bedrohliche Schlitze, die Murdra zornig entgegen funkelten. »Komm mit«, sagte er, als er Murdra erreicht hatte. Seine Stimme war leise, aber der Tonfall, in dem er sprach, erlaubte keinen Widerspruch.
Murdra nickte wortlos und strich ein letztes Mal mit der Hand über das glatte Holz von Belgors Bein, dann packte Lorn sie am Arm und zog sie mit sich, durch die Küchentür, hinters Haus.
»Was hast du gemacht?« fauchte er, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Ich?« knurrte Murdra und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab‘ nichts gemacht!«
»Du hast die Boote verkauft. Unsere Boote!«
»So wie ’s abgemacht war!«
»So wie ’s abgemacht war?« Lorns Stimme überschlug sich fast vor Wut. Für einen Augenblick fürchtete Murdra, er würde sie schlagen, doch Lorn atmete einmal tief durch und fuhr dann ruhiger fort: »Ich hab‘ mit Liesela gesprochen. Sie sagte, du wolltest die Boote nur verkaufen, wenn wir nicht aus dem Krieg zurückkehren würden.«
»Hab‘ gehört, dass ihr tot seid«, erwiderte Murdra. »Einer aus eurer Einheit hat ’s gesagt und Grengar hat ’s bestätigt.«
»Du hättest warten können, bis der Krieg vorbei ist« zischte Lorn.
»Tot ist tot«, knurrte Murdra. »Was soll man da warten?«
»Ich bin aber nicht tot«, erwiderte Lorn. »Ich nicht und Hiulad nicht und Henk auch nicht!«
»Wie?«
»Unsere Stellung lag vor einem Höhleneingang«, erzählte Lorn. »Als mir klar wurde, dass wir keine Chance hatten, hab‘ ich Henk und Hiulad in die Höhle gestoßen. Wir haben uns tief in den Berg zurückgezogen. Dort konnten wir uns halten, bis Lord Gawaan die Paladine mit seinen Rittern zurückgedrängt hatte. So haben wir überlebt.«
Die Gespaltene Jungfrau und das Banditenlager
Ein Verdacht keimte in Murdra auf. »Dartan und seine Räuber sollen Deserteure sein«, sagte sie. »Seid ihr mit ihnen gekommen?«
Lorn schüttelte den Kopf.
»Wie seid ihr dann gekommen? Die Brücke ist seit Tagen besetzt.«
» Haben uns nach Stewark durchgeschlagen«, sagte Lorn. »Von dort hat uns ein Freund hierher gebracht, mit seinem Boot.«
Murdra nickte nachdenklich mit dem Kopf.
Stimmt vielleicht, dachte sie.
»Und weißt du, was ich bemerkt habe, als ich hier angekommen bin?« fragte Lorn. Zorn flackerte wieder in seinen Augen auf. »Dass ich kein Boot mehr habe, um aufs Meer raus zu fahren, zu fischen und Liesela zu ernähren. Und warum? Weil du raffgierig bist und unsere Boote verkauft hast!«
Raffgierig!? Jetzt reichte es Murdra. Sie nahm die Arme von der Brust und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ich hab‘ Liesela das Gold gegeben, das ich für die Boote bekommen hab‘. Alles, ohne Abzüge! Nur die Schulden hab‘ ich einbehalten und die Zinsen erlassen, weil ich Mitleid hatte, mit den Frauen, wo sie doch Witwen waren, so wie ich.«
»Das reicht aber nicht aus, um neue Boote zu kaufen«, zischte Lorn.
Murdra wusste, dass sie ihm etwas würde anbieten müssen, wenn sie ihn loswerden wollte. »Gut«, sagte sie. »Ich geb‘ euch alles, was ich für die Boote bekommen hab‘. Ihr zahlt die Schulden später, aber mit Zinsen.«
Lorn schüttelte finster den Kopf. »Nein«, erwiderte er. »Du gibst uns alles, was wir brauchen, um neue Boote zu kaufen. Das Gold, das du für die alten bekommen hast, wird da nicht reichen.«
»Pah!« zischte Murdra. »Wär‘ ja noch schöner!« Sie wandte Lorn den Rücken zu und stapfte in Richtung Vorratshöhle davon. Lorn versuchte sie aufzuhalten, packte ihren Arm, aber Murdra riss sich los und stapfte unbeirrt weiter.
»Das wirst du bereuen!« rief Lorn hinter ihr her.
»Verschwinde!« knurrte Murdra, ohne sich umzudrehen. In ihrem Rücken hörte sie Lorns Schritte auf dem Kies. Dann krachte die Küchentür ins Schloss.
Murdra wartete eine ganze Weile, bevor sie in die Küche zurückkehrte. Lorn war nicht mehr da. Im Schankraum herrschte betretenes Schweigen. Der frische Metkrug, den Murdra auf der Anrichte bereitgestellt hatte, fehlte und war nirgends im Schankraum zu sehen.
Hat ihn mitgehen lassen, der Hund! dachte Murdra und tastete nach Belgors Bein, um sich an seinem Holz zu beruhigen. Ihre Finger fanden das Bein nicht. Murdra bückte sich und schaute in die Anrichte.
Das Holzbein war verschwunden.
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