Das beinahe Ende Al Shedims
Es sind turbulente Zeiten, doch die Leute kamen zurecht. Sie hatten zu leiden gelernt, nahmen die Schläge hin, die das Schicksal für ihr kleines Volk bereithielt – die meisten unter ihnen jedenfalls.
Die Tatsache, dass Al Shedim seinen Bewohnern keinen vollständigen Schutz vor plötzlich auftauchenden Feinden bieten konnte, hatte sich in den letzten Wochen gleich zweimal gezeigt, erst durch den Überfall der Abtrünnigen, die wie irres Pack gewütet und zerstört hatten, und schließlich zum Finale des großen Turniers, als die Diener des Dunklen persönlich kamen und Tod und Zerstörung brachten. Die ersten Menschen waren bereits ausgezogen, ihr Glück anderswo in Varant zu finden, in den Slums der Assassinenstädte oder an der Oase der Karawanserei im Herzen der Wüste, und es wurden Tag für Tag mehr. Und ohne es zu wissen, entgingen diese Mitglieder der Wüstengemeinschaft dem schlimmsten aller Ereignisse, das die Ruinenstadt noch Treffen sollte. Nur die Ruinen selbst, stumme Zeugen längst vergangener Geschichte, hatten so etwas schon einmal erlebt, doch sie blieben stumm.
„Eine Flutwelle! Da draußen, eine Welle kommt! Rettet euch in den Tempel!“
Die verzweifelten Schreie derer, die das Ungetüm gewaltiger Wassermassen draußen auf dem Meer erblickt hatten, schallten durch die Wüstenstadt, die trotz all der Schläge am Leben blieb und unbeirrt weiter funktionierte – bis jetzt.
Nur wenige derer, die die Warnungen hörten, nahmen sie ernst, und nur ein Teil von denen, die es taten, waren schnell genug, um Zuflucht im einzigen wirklich massiven Bau der ansonsten größtenteils aus Zelten bestehenden Siedlung zu suchen. Voller Panik strömten die Menschen durch das Eingangsportal in das Gotteshaus, als die Welle brach und alles unter sich begrub. Nur mit letzter Kraft und dem Segen Adanos‘ gelang es den Wassermagiern, die gewaltigen Wassermassen am Eindringen zu hindern. Alles, was draußen war, wurde vernichtet. Die gesamte Stadt.
Es waren harte Tage für die Überlebenden von Al Shedim, in denen sie wie eingepfercht zwischen den schweren Mauern aus Stein darauf warteten, dass das Wasser zurück ins Meer wich. Die Leute wurden immer gereizter, hockten aufeinander. Die Nahrung ging zur Neige.
Schlussendlich, als man sich fast sicher war, dass das Wasser nicht von allein zurück gehen würde, bevor sie alle verhungert wären, zeigte sich die innige Verbundenheit und Gemeinschaft, die das Wüstenvolk auszeichnete. Sämtliche Magier des Kreises sammelten sich und bündelten ihre magischen Kräfte, während die anderen ihre Gebete an ihren Gott schickten, und mit aller Kraft stießen sie das Element, das zu beherrschen sie gelernt hatten und das ihnen seine wahre Macht demonstriert hatte, zurück in die Weiten des Ozeans.
Es war ein schrecklicher Anblick von Tod und Zerstörung, der sich den Überlebenden bot, und schnell gingen Tod und Seuche unter ihnen um, doch anstatt aufzugeben, sollte das Wüstenvolk Hand in Hand die Toten beisetzen, den Schutt abtragen und neues Leben in die vermeintlich vernichtete Siedlung an der Südküste bringen.
Dieses Naturereignis sollte nicht nur direkte, sondern noch weitaus später auftretende und gravierende Folgen für das Leben in Al Shedim haben, und war wohl die größte Zäsur in der Geschichte des Wüstenvolks seit der Wiedervereinigung, die knapp drei Jahre zuvor stattgefunden hatte.
(Maris)