Spieletitel: Gothic
Entwickler: Piranha Bytes
Vertrieb: Egmont Interactive
erscheint voraussichtlich: März 2000
Genre: Rollenspiel
Bochum-Wattenscheid ist eigentlich ein eher unscheinbarer Ort im Herzen des Ruhrgebietes - doch der erste Eindruck täuscht: Hier werkelt die junge Spiele-Schmiede Piranha Bytes mit »Gothic« an ihrem äußerst ambitionierten Erstlingswerk, einem 3D-Rollenspiel mit aufwendiger Grafik, überzeugender Gegner-KI und spannender Story. Nachdem es in letzter Zeit jedoch ein wenig still um das Projekt geworden war, haben wir uns voller Neugier auf den Weg gemacht, um euch über die aktuellen Entwicklungen zu informieren. Piranha Bytes PR- und Marketing-Manager Tom Putzki und einige Mitglieder des Designteams stellten sich bereitwillig unseren bohrenden Fragen und präsentierten ein Spiel, das durchaus das Zeug haben könnte, dem hochgehypten und leider ziemlich bugverseuchten Genreprimus »Ultima IX« das Wasser abzugraben.
Gothische Welten
Ganz ähnlich wie im Actionfilm »Die Klapperschlange« wird der Spieler zu Beginn von »Gothic« in eine abgeschlossene Gefängniswelt verbannt - im Unterschied zu John Carpenters Action-Klassiker aber in ein magisches Gefängnis. Die Spielwelt von »Gothic« ist düster: Hinter der undurchdringbaren Zauber-Barriere tummeln sich Verbrecher, Fahnenflüchtige und ähnlich zwielichte Gestalten, die sich ein eigenes, komplexes Sozialsystem geschaffen haben. »Das Ziel des Spieles ist zunächst simpel: In der neuen Umgebung überleben!«, erklärt Tom Putzki. Doch so einfach ist das gar nicht, denn nach seiner Verbannung ist der Spieler in der Welt von »Gothic« ganz auf sich allein gestellt.
Die Bewohner der magischen Bannmeile gliedern sich in drei verschiedene Fraktionen auf. Das mächtige »Alte Lager« fördert Erz in den Bergminen und sichert sich durch den Handel mit der Außenwelt einen gewissen Wohlstand, von dem aber nur die Führer des Lagers wirklich profitieren. Das »Neue Lager« hat sich irgendwann vom »Alten Lager« abgespalten und verfügt ebenfalls über eine Mine, plant aber den Ausbruch aus dem Gefängnis. Hinzu kommt das Lager der Psioniker, eine Gruppe magiekundiger Sektierer, die verschiedenste Kräuter anbauen und gewinnbringend verkaufen. In allen Lagern leben NPCs, die ihren Berufen nachgehen und ganz individuelle Verhaltensweisen und Fertigkeiten besitzen.
In diesem komplexen Sozialgefüge müsst ihr euch zurechtfinden und die verschiedenen Machtkonstellationen zu eurem Vorteil ausnutzen. Bekämpft ihr lieber im Auftrag des »Neuen Lagers« die Psioniker oder tötet ihr hinterrücks ein hohes Tier des »Alten Lagers«, um euch dadurch persönliche Vorteile zu verschaffen und in der Machthierarchie aufzusteigen? Doch was passiert, wenn ihr bei eurem hinterhältigen Treiben entdeckt werdet? In der offenen Spielwelt von »Gothic« wird es verschiedenste Handlungsalternativen geben und nicht jede Taktik führt zwangsläufig zum Erfolg. Und das Spielziel, nämlich der Ausbruch aus dem magischen Gefängnis, liegt noch in weiter Ferne...
Die Welt von »Gothic« wird natürlich nicht nur von menschlichen Wesen bevölkert. Diverse Kreaturen von eher harmlosen Gnomen und klapprigen Skeletten bis hin zu überdimensionalen Trollen machen die Gegend unsicher und können mit einem reichhaltigen Waffenarsenal oder verschiedensten Zaubersprüchen bekämpft werden. Genau wie die menschlichen NPCs besitzen aber auch die Monster clevere KI-Routinen, klauben gefundene Waffen auf, wenden unterschiedliche Kampftechniken an, reden und leben miteinander oder bekämpfen sich gegenseitig. Zusammen mit den wirklichkeitsnah agierenden menschlichen NPCs entsteht so der Eindruck einer wirklich organischen Welt.
Grafische Fortschritte
Seit unserem letzten Bericht von der diesjährigen E3 hat sich bei »Gothic« nun mittlerweile wieder so einiges getan, denn unbelastet von dem Börsengang der Muttergesellschaft Phenomedia AG hatten die Entwickler bei Piranha Bytes reichlich Gelegenheit, das ambitionierte Rollenspielprojekt weiter voranzutreiben. Die Verbesserungen des Spiels sind auf den ersten Blick sichtbar: Sah die Grafik der 3D-Welt bereits in früheren Versionen schon beeindruckend aus, so wurde die Optik noch weiter verfeinert. Anstelle von weiten Ebenen erkundet der Spieler jetzt dichte Wälder und schroffe Felslandschaften, entdeckt unterirdische Höhlensysteme oder besucht die großen und sehr detaillierten Lager der drei NPC-Fraktionen. Zugunsten von zusätzlichen Polygondetails wurde zwar der ständig präsente Hintergrundnebel etwas verstärkt, dieser Effekt fällt aber nur an sehr hochgelegenen Punkten mit extremer Fernsicht deutlich auf. Die Grafik orientiert sich außerdem nicht am kunterbunten 3D-Effektgewitter amerikanischer Fantasy-Produktionen, sondern kommt in realistischen Braun- und Grüntonen daher, ohne dabei trist zu wirken. Im Gegenteil, der realistische Tag- und Nachtwechsel zaubert schöne Himmelstexturen auf den Monitor, nachts werden die Lager vom Fackelschein schummrig beleuchtet und überzeugende Lensflare- und Zaubereffekte veredeln die Optik zusammen mit den flüssigen Animationen des Hauptcharakters noch zusätzlich.
Doch auch die Akustik soll keinesfalls zu kurz kommen. Für die Synchronisation kooperiert Piranha Bytes mit der Firma Effective Media, die über professionelle Tonstudios verfügt und in der Vergangenheit unter anderem für die erstklassige Vertonung von »Outcast« verantwortlich war. Ein besonderes Schmankerl ist neben der dynamischen Musikuntermalung außerdem die Zusammenarbeit mit der Band »In Extremo«, deren Stil Tom Putzki recht prägnant als »Rammstein im Mittelalter« beschreibt. Von ihrem aktuellen Album »Verehrt und angespien« steuern die Berliner den akustischen Song »Herr Mannelig« bei, den die Band sogar im Spiel präsentieren wird. Dafür wurden die sieben Musiker als detailreiche 3D-Charaktere mitsamt ihrer Tatoos und Instrumente nachgebildet.
Sichtbare Verbesserung
»Optisches Feedback« ist eins der wichtigsten Stichworte, dass im Gespräch mit Tom Putzki immer wieder fiel. So sind gekaufte oder im Kampf erbeutete Waffen, Rüstungen und Ausrüstungsgegenstände immer direkt am 3D-Charakter eurer Spielfigur sichtbar. Doch damit nicht genug: »Gothic« wird euch nämlich keineswegs mit rollenspieltypischen seitenlangen Zahlenwüsten auf unübersichtlichen Charakterwerte-Bildschirmen nerven, sondern will das Fortkommen des Spielers stattdessen sichtbar nachvollziehen. So ist der Hauptcharakter zu Beginn des Spiels etwa im Umgang mit Waffen noch ein ziemlicher Versager und kann selbst ein simples Schwert nur mit beiden Händen mühsam führen. Gewinnt er aber an Erfahrung und Kampfpraxis hinzu, so entwickelt er sich zu einem wahren Meister der Kampfkunst, was optisch durch geschmeidige Schwerthiebe und gekonnte Ausweichmanöver präsentiert wird. Übrigens stammen die realistischen Hieb- und Stichanimationen von zwei Experten mittelalterlicher Schwertkampftechnik, deren Bewegungen per Motion Capturing auf die Spielfigur übertragen wurden.
Leichte Bedienbarkeit ist ebenfalls ein Schlüsselwort bei der Entwicklung von »Gothic«. »Der Spieler soll einfach auf den Play-Button klicken und dann ins Spiel einsteigen können«, so Tom Putzki. Neulinge in der »Gothic«-Welt werden von NPCs an die Hand genommen, lernen den Umgang mit dem Spiel und die harten Verhaltensregeln der Welt kennen und können in den ersten Stunden auch nicht sterben. Das Inventarsystem ist sehr unkompliziert zu bedienen: Mit ein paar schnellen Mausklicks wird der Spielfigur eine neue Rüstung verpasst oder eine Waffe in die Hand gedrückt. Doch nicht nur Gelegenheitsspieler sollen durch das Action-RPG angesprochen werden: Die umfangreiche und lebendige Spielwelt, die komplexen Machtstrukturen innerhalb der drei Fraktionen und der langsam ansteigende Schwierigkeitsgrad sollen auch Hardcore-Gamer für Wochen an den Monitor fesseln. Tom schätzt, dass man etwa 50 Stunden benötigen wird, um »Gothic« komplett durchzuspielen. Einige Details stehen zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nicht fest. So wird derzeit entschieden, ob man seinem Charakter vor Beginn eines neuen Spiels ein individuelles Konterfei verpassen kann oder stattdessen mit einem festen Charakter spielt.
Mehrspieler-Vergnügen
Doch »Gothic« wird mehr bieten als nur einen ausgefeilten Singleplayer-Modus mit zugänglichem Interface. Per LAN können mehrere Spieler entweder gemeinsam oder in Konkurrenz zueinander die »Gothic«-Welt erleben; wenn sich einige Mitspieler dann einer Fraktion anschließen und andere lieber als marodierende Einzelgänger ihr Dasein fristen wollen, entstehen sicher interessante und vor allem ausufernde Multiplayer-Sessions. Die Internet-Community wurde ebenfalls nicht vergessen und so wird nach dem Release des Spiels ein 3D-Chatraum online gehen, in dem sich die User in Form von dreidimensionalen »Gothic«-Avataren treffen und über das Spiel austauschen können.
Den angekündigten Veröffentlichungstermin im März 2000 will das Team von Piranha Bytes auf jeden Fall einhalten. Die Frage nach der dann notwendigen Hardware ist natürlich wichtig, doch hier gibt sich »Gothic« relativ genügsam. »Ein ordentlicher Pentium II mit 300 MHz und einem Direct3D- oder 3dfx-Beschleuniger sollte für einen absolut flüssigen Spielablauf sorgen«, erklärt Tom. Interessantes Detail am Rande: Während der Präsentation lief die Alpha-Version auf einer Voodoo2-Karte mit 12MB und schlug sich selbst auf dieser betagten Hardware sehr achtbar.
Hinter den Kulissen
Mindestens genauso interessant war jedoch auch der Ausflug in die »heiligen Hallen« der Entwicklerbüros von Piranha Bytes. Hier demonstrierten Grafiker, Script-Designer und Textur-Künstler, wie die komplexe Spielwelt von »Gothic« zusammengesetzt wird. So entstehen die 3D-Objekte der verschiedenen Spielfiguren, Monster und Gegenstände direkt in dem professionellen Entwickler-Tool »3D Studio MAX« und werden mitsamt aller Animationsphasen und Texturen ohne Qualitätsverlust in die Spielgrafik konvertiert. Die 3D-Engine von »Gothic« stellt dabei sicher, dass die Framerate auch bei hohem Personen- und Detailaufgebot auf dem Monitor nie in die Knie geht, denn dank eines dynamischen Skalierungssystems ist stets etwa die gleiche Anzahl an Polygonen zu sehen. Die Grafiker und Texturierer arbeiten auf ihren Systemen ebenfalls hauptsächlich mit Voodoo2-Grafikkarten, um sicherzustellen, dass das fertige Spiel auf dieser weitverbreiteten Hardware möglichst flüssig läuft.
Geheimprojekt
Zum Schluß unseres Besuches verriet Tom Putzki einige Details zum nächsten Projekt, das bei Piranha Bytes bereits vorbereitet wird. So plant das junge Team ein 3D-Actionspiel, über das allerdings noch sehr wenige Einzelheiten vorliegen. Immerhin soll der noch namenlose Titel in naher Zukunft spielen und über revolutionäre Grafikeffekte wie Bump Mapping und NURBS verfügen sowie komplett zerstörbare Gelände- und Gebäudeformationen anbieten. Besonders an letzterem Feature muss laut Tom aber noch gefeilt werden, »denn im momentanen Stadium kann man sich mit einer schweren Waffe und etwas Geduld glatt bis zum Erdkern durchbuddeln!«
Aber nun genug der Zukunftsmusik und zurück zu »Gothic«: Was die Entwickler bei Piranha Bytes im Augenblick in der Pipeline haben, sieht jetzt schon äußerst vielversprechend aus. Zwar befindet sich »Gothic« momentan in einer nur teilweise spielbaren Fassung, doch die geschmeidigen Animationen des Hauptcharakters, die einfache Bedienung und die in realistischen Erdtönen gehaltene und sehr detaillierte Hintergrundgrafik macht bereits Lust auf mehr. Hoffentlich gelingt es dem Team, den angesetzten Veröffentlichungstermin im März des nächsten Jahres einzuhalten, denn »Gothic« sieht tatsächlich wie ein ernstzunehmender Konkurrent zum neuesten Teil der »Ultima«-Serie aus und zeigt, dass auch deutsche Entwickler mit Ambitionen und Talent faszinierende und atmosphärische Spielwelten jenseits von altbackenen Wirtschaftssimulationen und Fußballmanagern schaffen können.