Von Don-EstebanOlivia stellte viele Fragen. Das war gut. Neugier war immer eine starke Triebfeder für Erkenntnis. Und mehr Erkenntnis verhalf zu größerem Weltverständnis. Und dieses wiederum half dabei, die eigenen Ziele erfolgreicher zu verfolgen. Nur stellte sie viele Fragen, die recht bedeutungslos waren. Esteban fragte sich, ob seine Aufgabe darin bestand, seiner jungen Studentin die Magie des dunklen Gottes beizubringen oder ihr die Werkzeuge zur Erkenntnissuche zu zeigen. Vermutlich eher das Erste. Das war auch einfacher. Wieder einmal erkannte er, daß er Zeit seines Lebens mehr mit dem Zweiten beschäftigt war und er hatte das dumpfe Gefühl, trotz all der Jahre damit noch immer am Anfang zu stehen. Warum dann also die junge, lernwillige und überaus neugierige Frau dafür tadeln, daß sie vielleicht nicht immer die Fragen stellte, die ihm als die richtigen erschienen wären? Er selbst hatte damals, vor vielen Jahren, als er neu im Kastell war, auch viele Fragen gestellt. Ob es immer die richtigen gewesen waren? Das mochten die Dämonen entscheiden, die ihn in seiner Lehrzeit begleitet und angeleitet hatten. Zu seiner Zeit war er nahezu allein in den Gemäuern der Magierburg gewesen. Nur nach und nach hatten sich die Mauern wieder gefüllt. Und seit damals trug er keine Hosen mehr, sondern eine Robe. Nunja ...
Also beantwortete er ihre erneuten Fragen, ohne sie nach ihrer Nützlichkeit für den Gegenstand des Interesses zu bewerten.
»Einfach? Ihr meint, es sei einfach, Magie auszuüben, noch dazu diejenige fortgeschrittener Stufen? Wenn es einfach wäre, könnte es jeder und Ihr müßtet es nicht lernen«, wies er sie nachsichtig auf die Diskrepanz zwischen ihren Worte und der Wirklichkeit hin.
»Daß die durch den Magier aufgewandte Magie dem magischen Gegenstand entsprechen muß, ist einer Magierin wie Euch ja sicher bekannt. Ein magisches Licht zum Beispiel verlangt selbstverständlich weniger davon, als ein beschworener Dämon.
Und ja, ich bin mir sicher, daß es drei Dimensionen der räumlichen Ausdehnung sind. als ich das letzte mal nachzählte, waren sie noch alle da. ansonsten wäre die Welt eine Illusion und in Wirklichkeit platt. Was entscheidende Auswirkungen auf alles hätte. Denn dann würde die gesamte Welt in einer geometrisch bestimmten Ebene liegen. Dinge und Wesen würden sich an Engstellen stauen und können nicht einfach ausweichen, Tageslängen wären vermutlich immer gleich und selbst Dinge wie der Verdauungstrakt müßten anders gelöst werden, denn ansonsten würden Menschen in zwei Hälften zerfallen. Das wäre äußerst bedauerlich.«
Er bemerkte, daß er sich schon wieder in anderen Welten verloren hatte und suchte schnell den Faden von Olivias Fragen.
»Vergesst das Gerede über eine seele. Wenn es tatsächlich so ein hypothetisches Konstrukt gibt, dann verlässt es unseren Körper mit dem Tod. Die Seele kann - und das erklärt vieles - nur ein Teil von Innos' Einfluß sein. Und wie nicht anders zu erwarten, ist sie sofort verschwunden, sobald der Körper zum Tode übergeht. Innos mag der Gott des Lebens sein, doch Beliar ist der, der über den Tod gebietet. Deshalb ist Innos an allem, was lebt, interessiert, doch hat er weder Macht über noch schnekt er Beachtung dem Tod. dies ist die domäne Beliars. Tote Körper gehören also ganz ihm. Oder nein, gehören ist vermutlich das falsche Wort. Er wacht vielmehr über den Tod, ist der dazu eingesetzte Vollstrecker eines Urteils, das er nicht gefällt hat. So wie alles beginnt, muß auch alles enden. Innos ist der Beginn, Beliar das Ende. Womit sich auch die Frage stellt, warum man den Beginn anbeten soll. Dies ergibt keinen Sinn. Der Beginn erfolgt ohne eigenes Zutun, denn davor existiert ein Individuum nicht. Und nachdem der Beginn stattgefunden hat, gibt es keinen Nutzen darin, etwas Vergangenen zu huldigen. Es würde viel mehr Sinn ergeben, das unweigerliche Ende hinauszuzögern, indem man den Herrn darüber besänftigt. Doch Beliar wird allenthalben verkannt als Gott, der den Tod bringt. Doch ist er in Wahrheit nur der Empfänger der Toten, nicht deren Ursache. Aber das wisst Ihr sicher auch alles.«
Abermals hatte er sich in seinen Gedanken sehr weit vom ursprünglichen Pfad entfernt.
»Wo waren wir? Achja, richtig: Welchen Zauber auch immer Ihr auslöst, er wird immer von der Euch innewohnenden Magie gespeist werden und ins Nichts zerfallen, sobald die Zufuhr an Magie abreißt. So wie Euer Körper immer wieder Nahrung braucht, um nicht zu verdorren, benötigt auch ein Zauber immer wieder Nahrung, um seine Gestalt nicht zu verlieren. Es reicht also nicht, einen Zauber auszusprechen und dann besteht er in alle Ewigkeit fort. Dies ist nur bei ganz wenigen Zaubern so - oder zumindest sind die Magiemengen mancher Zauber so unendlich klein, daß sie nicht auffallen. Ich denke da an das magische Verschließen. Ihr sicher auch. Aber kommen wir zum Thema zurück ...
Die Beschwörung von Untoten kann - genauso wie die der verschiedensten Skelette - auf unterschiedlichstem Wege bewerkstelligt werden. Natürlich gibt es einfachere Weisen und kompliziertere«, gab er zu. »Eben wie bei den gewöhnlichen Skeletten. Doch jede Art der Beschwörung hat ihre Vor- und Nachteile. Eine Beschwörung aus anderen Sphären ist schwierig und benötigt viel magische Kraft, doch gelingt sie auch da, wo es keine Quellen in unserer Welt gibt. Zum Beispiel auf dem Meer oder über Felsgestein, wo die Erde keine Überreste früheren Lebens beherbergt. Möglich ist sicher auch eine Teilbeschwörung. Oder nennen wir es lieber zusammengesetzte Beschwörung. Das Skelett eines Untoten aus der Erde dieser Welt, Fleisch und Sehnen, Haut und Haare aus einer anderen Sphäre. die hohe Kunst dürfte es sein, alles rein aus eingesetzter Magie entstehen zu lassen, ohne Kontakt zu anderen Ebenen, ohne Benutzung der in der Erde ruhenden Magie, keine Überreste. Dies verlangt die höchste magische Kunst. Gebt Euch nicht damit ab, es wird Euch nicht gelingen. Felisons Sphärenlehre enthält dazu in der Tat einige richtige Gedanken, wie ich finde. Seine Warnungen sind nicht unbegründet!«
Sie erreichten die Hütte.
»Für heute ist dies genug Magietheorie. Das Schwierige an der Magie ist weniger die Theorie, sondern mehr die Intuition, das Erfassen der eigenen Fähigkeiten, ihre Lenkung und Anwendung. Fahren wir morgen fort.«
Er sah sich um und fand Joe Black nirgends.
»Vielleicht ist bis dahin auch der ehemalige Assassine wieder aufgetaucht. Ich glaube übrigens, daß er einen gänzlich anderen Zugang zur Magie besitzt, als ihr und auch ich. Zupackender, direkter, auf die unmittelbare Wirkung konzentriert. Es besitzt eine eigene Faszination.«
Der Magier machte sich tatsächlich daran, neuen Tee zu kochen. Aus irgendeinem Grund löste Sumpfkraut-Tee ein Sättigungsgefühl aus und ersetzte die eine oder andere Mahlzeit. Aber vielleicht war dies nur Illusion. Es ließe sich jedenfalls erklären. Sumpfkraut konnte vieles.