01. Murdra |
02. Das Messer |
03. Rauch im Gebirge |
04. Gerüchte vom Kontinent |
05. Groms Hand |
06. Der hölzerne Wirt |
07. Der Fremde |
08. Der schwarze Krieger |
09. Ped |
10. Nummer drei |
11. Holz auf Stein |
12. Blutnattern |
13. Die Freiwilligen I |
14. Die Freiwilligen II |
15. Zum später zahlen |
16. Tot ist tot |
17. Schuld |
von Hans-Jörg Knabel
kleines Boot |
Die Vorratshöhle war voll, der Schankraum leer; nicht ganz, aber fast.
Rauter saß mit ein paar Gildenkämpfern am Tisch neben der Tür. Diego, der nach mehreren Wochen der Abwesenheit aufs Neue in Murdras Taverne eingekehrt war, hatte sich zu ihnen gesellt. Sonst war keiner da - wie so oft in letzter Zeit.
Könnten ruhig mehr trinken, grollte Murdra und starrte mürrisch zu den Männern hinüber, die seit Stunden beisammen saßen und über den Krieg sprachen, ohne zu essen und ohne richtig zu trinken.
Endlich hob Rauter den Arm. »He, Murdra«, rief er. »Wir könnten hier alle noch einen Met vertragen!«
Wird aber auch Zeit, dachte Murdra und füllte die Becher, die sie längst auf der Anrichte bereitgestellt hatte. Dann ging sie rüber zu den Männern und verteilte den Met.
»Zehn Schiffe?!« Rauter stieß einen langgezogenen Seufzer aus. »Wenn sie im Süden der Stadt landen, ist Setarrif verloren, richtig?«
»Verloren ist ein großes Wort«, erwiderte Diego. »Ich habe Ethorn gewarnt. Er wird wissen, wie er die Stadt schützen kann.«
»Du hättest bleiben sollen, ihnen helfen« sagte Rauter.
»Alleine mit meinem Boot gegen die myrtanische Flotte?« Diego lächelte milde. »Das hätte rein gar nichts gebracht. Außerdem habe ich anderes im Sinn.«
»Was?« fragte Rauter.
»Den Überblick behalten, über die Lage auf der Insel, zum Beispiel«, antwortete Diego. »Dinge, an denen Mangel herrscht, an den Myrtanern vorbeischmuggeln. Es gibt vieles, womit man helfen kann, ohne sinnlos in den Tod zu segeln.«
»Du willst die Leute hier auf der Insel mit Waren versorgen?« fragte Rauter. »Dann brauchst du ein Vorratslager.« Er deutete mit dem Kopf zu Murdra. »Hast du schon mal mit unserer lieben Wirtin hier geredet?«
»Wär' ja noch schöner«, fauchte Murdra und stellte den letzten Metbecher auf den Tisch.
Diego lachte. »Keine Angst, Murdra«, sagte er. »Ich hab schon eins.«
Rauter schaute Diego neugierig an. »Brat mir einer 'ne Harpyie! Wo?«
Diego zwinkerte ihm verstohlen zu. »Was du nicht weißt, kannst du nicht ausplaudern.«
»He!« rief Rauter empört. »Ich bin zuverlässig, loyal, richtig?«
»Auch wenn du in Gefangenschaft gerätst?« Diego schüttelte entschieden den Kopf.
Fischernetz |
Murdra hatte genug.
Wird dauern, bis sie wieder was wollen, dachte sie und beschloss, den Abwasch der letzten Tage in Angriff zu nehmen. Sie ging in den Weinkeller, wo sie den Waschzuber aufbewahrte. Dann nahm sie den Zuber von der Wand und ging auf das offene Tor zu, das vom Weinkeller auf den Hof hinaus führte. Als sie es fast erreicht hatte, sah sie Liesela auf der kleinen Holzbrücke stehen, die die Straße mit dem Hof der Gespaltenen Jungfrau verband.
»Was will die hier?« zischte Murdra. Sie konnte Lorns Frau nicht ausstehen.
Kommt immer nur, um Lorn vom Trinken abzuhalten, und gönnt mir das Bisschen Gold nicht, das er in der Jungfrau lässt. Aber Lorn war im Krieg. Was also wollte Liesela? Sie sah ausgemergelt aus, müde und krank. Wie es schien, konnte sie sich nicht recht entscheiden, ob sie den Hof der Gespaltenen Jungfrau betreten oder zurück auf die Straße gehen sollte, von der sie gekommen war. Da begriff Murdra, was Liesela zur Gespaltenen Jungfrau geführt hatte.
Will betteln, die Kuh!Murdra schnaubte verächtlich und tat so, als hätte sie Liesela gar nicht bemerkt. Den leeren Waschzuber in beiden Händen stapfte sie geschäftig über den Hof, in Richtung der Scheune, in der die Fässer mit dem Regenwasser standen. Aus den Augenwinkeln konnte sie Liesela sehen, die immer noch mit sich rang. Dann hatte Murdra die Scheune erreicht. Sie ging am Ochsenpferch durch, ganz nach hinten, und öffnete das vordere Fass. Dann nahm sie die Schöpfkelle in die Hand und begann, Regenwasser in den Zuber zu schöpfen. Der Zuber war noch nicht halb voll, da hörte Murdra Schritte in ihrem Rücken.
Liesela sagte nichts, sie räusperte sich nur.
»Was willst du?« fragte Murdra, ohne sich umzudrehen.
»Unsere Männer«, begann Liesela, »sind jetzt schon seit einigen Wochen weg.«
»Ich weiß«, knurrte Murdra, während sie weiter Wasser aus dem Fass in den Zuber schöpfte. »Und?«
»Unsere Vorräte sind zur Neige gegangen, schon vor ein paar Tagen, und wir haben furchtbaren Hunger«, schluchzte Liesela, dann kam sie zum Punkt: »Du... du musst uns was zu Essen geben!«
Das reicht jetzt, dachte Murdra und meinte beides, das Wasser im Zuber und die Dreistigkeit, mit der Liesela Forderungen stellte. Sie schob den Zuber weg vom Fass und schaute Liesela grimmig in die Augen. »Müssen, was?« knurrte sie. »Ich muss gar nichts!«
»Bitte, Murdra, wir halten das nicht mehr lange aus!«
»Aha, bitte!« zischte Murdra. »Und was ist mit der Bezahlung?«
»Wir haben kein Gold mehr, aber ich flehe dich an!«
»Nichts da!«Murdra hob den schweren Zuber mit dem Wasser vom Boden auf. »Verschenkt wird nichts«, knurrte sie und drängte Liesela beiseite. Dann stapfte sie aus der Scheune.
Liesela folgte ihr. »Du musst uns nichts schenken«, sagte sie hastig.
Murdra knurrte abfällig, aber sie ging etwas langsamer.
»Wir geben dir was«, fuhr Liesela fort.
Murdra blieb fast stehen. Mit einem Anflug zarter Neugier fragte sie über die Schulter hinweg: »Was?«
Liesela überlegte. »Was immer du willst«, antwortete sie.
Pah! Murdra beschleunigte ihren Schritt.
Haben eh nichts, die Fischersfrauen! Dann blieb sie abrupt stehen. Wasser schwappte aus dem Zuber; erst nach vorne, auf den Boden, dann nach hinten, auf Murdras Rock. Verflucht! dachte sie, als das kalte Nass ihren Bauch benetzte, aber ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie drehte sich zu Liesela um und sagte: »Die Boote.«
Liesela starrte Murdra erschrocken an. »Die Boote?« hauchte sie. »Das kannst du nicht machen!«
»Warum nicht?« fragte Murdra. Die Idee mit den Booten gefiel ihr.
Lohnt sich vielleicht doch, etwas zu reden, dachte sie.
Auch ein Krieg hat ein Ende, irgendwann. Sie bückte sich und stellte den Zuber auf den Boden.
»Die Boote sind alles, was wir haben«, stammelte Liesela. »Ohne sie können wir nicht mehr fischen!«
»Ihr fischt eh nicht«, knurrte Murdra und verschränkte die Arme vor der Brust. »Eure Männer fischen, aber die sind im Krieg!«
»Und wenn sie zurück sind?«
»Die Boote sind nur Pfand«, sagte Murdra. »Ich geb' euch zu essen, soviel ihr braucht, zum später zahlen. Wenn eure Männer zurückkommen, aus dem Krieg, dem elenden, geh'n sie fischen und begleichen eure Schuld. Wenn nicht, verkauf' ich die Boote und nehm' mir meinen Teil, samt Zinsen, versteht sich. Den Rest geb' ich euch. Dann sind eure Schulden beglichen und ihr habt etwas Gold, könnt überleben.«
Liesela starrte mit trüben Augen auf das Wasser im Zuber. »Ich weiß nicht«, flüsterte sie.
Murdra zuckte mit den Schultern. »Ihr habt Hunger«, knurrte sie. »Ich hab' keinen.« Sie bückte sich und packte den Zuber mit beiden Händen.
»Du gibst uns, soviel wir brauchen?« fragte Liesela mit leiser Stimme.
Murdra ließ den Zuber stehen und richtete sich wieder auf. »Zum später zahlen«, sagte sie und nickte mit dem Kopf. »Was ihr nehmt, wird aufgeschrieben. Alles, ohne Ausnahme!« Sie strecke Liesela die Hand entgegen und wartete ab.
Liesela zögerte noch immer, dann schlug sie ein.
Murdra knurrte zufrieden. Sie ließ den Waschzuber auf dem Hof stehen und führte Liesela durch den Schankraum und die Küche in ihre Vorratshöhle. Im Vorbeigehen nahm sie ihr Notizbuch samt Gänsefeder und Tintenfässchen aus der Anrichte.
Hängender Fisch |
Als Murdra nach einer ganzen Weile in die Küche zurückkehrte, stand Diego am Eingang zur Küche. »Ich muss gehen«, sagte er und ließ ein paar Goldmünzen in Murdras Hand gleiten.
Murdra zählte die Münzen.
»Was wollte sie?« fragte Diego und deutete mit dem Kopf auf die Küchentür, durch die Liesela mit Murdra gegangen war.
»Essen«, knurrte Murdra.
»Und? Hast du ihr welches gegeben?«
»Ja.«
»Das ist gut«, sagte Diego. »Ihr müsst zusammenhalten, dann übersteht ihr den Krieg.«
Murdra nickte mit dem Kopf und lächelte Diego zum Abschied schief an, dann schob sie das Notizbuch, in dem sie genauestens notiert hatte, was Liesela aus der Vorratshöhle genommen hatte, zurück in die Anrichte.
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